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   Achtung unzensiert! - Kurzgeschichten
  



Achtung unzensiert!



Kurzgeschichten



Übersicht (Direktlinks):

Das dritte Zimmer

Keine Spuren im Schnee

Auf stiller Zuversicht

Dein letzter Törn, Skipper

 


 
Das dritte Zimmer

Jene kleine, schmuddelige Bar in der Altstadt war so etwas wie das dritte Zimmer
meiner schäbigen Studentenbude. Meine Nächte verbrachte ich dort zwischen
Hoffnungslosen und hoffnungslosen Idealisten: Kommilitonen der
Geisteswissenschaften, Punks, Arbeitslose, zukünftige Taxifahrer und Barmänner,
Gelegenheitsrevoluzzer und Lebenskünstler mancherlei Art. Das heruntergekommene
Mobiliar, die klebrige Theke, die verbrauchte, qualmsatte Luft und die widerwärtigen,
telefonzellengroßen Toilettenräume - ich fühlte mich damals nirgends auf der Welt
so zuhause wie in dieser Kneipe. Und ich empfand dabei, dass ein Zuhause nicht
unbedingt ein Ort sein muss, an dem man sich wirklich wohlfühlt, sondern eine
adäquate Außenhülle für die eigene Innenwelt.

Wie oft standen wir bis zum frühen Morgen dicht gedrängt mit Bierflaschen in den Händen,
die jugendlichen Gesichter von all dem wirren Zeug hochrot-diskutiert und -geblödelt, lachten
grundlos zu laut und hysterisch glücklich, stießen uns gegenseitig die Ellbogen in die Seiten
und wurden nicht satt oder müde von unserem sinnlosen Geschwafel. Was wir „machen
würden, wenn“ und wem wir „so richtig in den Arsch treten würden, falls“, zelebrierten wir
auch in angetrunkenem Zustand noch mit einer arroganzstrotzenden Eloquenz, die Kindern
aus sogenanntem gutem Hause eigen ist, die sich ohne Not ins echte Leben hinabstürzen
und darin verlorengehen.

Manchmal blies mein bester Freund Qualmringe in die Luft. Er konnte mir damit imponieren,
weil ich das nicht hinkriegte. „Los, schreib ein A rein!“, befahl er und freute sich wie ein
kleiner Junge, wenn ich den Zeigefinger hob und unsichtbar die Anarchie verkündete.
Stundenlang konnte er rauchend an der Theke lehnen und mit glänzenden Augen über
Romane von Max Frisch und Hermann Hesse dozieren. Mit jedem Bier wurden seine
Interpretationen gewagter, lebhafter und farbiger, auch abwegiger, seine Beine dabei
immer wackliger, so dass er sich mit der Hand, die nicht Zigarette und Bierflasche hielt, an
meiner Schulter festklammern musste. „Nachher bringen wir uns gegenseitig heim; erst ich
dich und dann du mich“, pflegte er mit gespieltem Ernst anzukündigen. Und ich versprach
es jedes Mal, hielt es aber nie.

Über die Uni redeten wir kaum. Er studierte Ägyptologie und erwähnte niemals auch nur mit
einem Wort das Danach. „Das ist ein weites Gebiet und man muss lange studieren“,
beteuerte er nur manchmal. Ich selbst hatte mein Studium längst genauso satt wie die
ganze miefige Stadt, über die bereits Heinrich Heine schrieb "ist schön und gefällt einem
am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht", die überteuerten Miethöhlen, den
Mensafraß und im Grunde genommen auch diese Bar, die mich und meine Dämonen gnädig
verschluckte. Ich wusste, dass er panische Angst vor dieser Zukunft hatte, in der es keine
Schulter zum Festhalten, sondern nur jenes fadenscheinige soziale Netz zum Auffangen gab.
Einer wie er würde lieber daran vorbeistürzen und hart auf dem Boden der Tatsachen
aufschlagen als dort drin zu landen. Manchmal hatte er nicht einmal mehr genug Geld für
den Mensafraß oder die kurze Bahnfahrt zu seinen Eltern. "Flüssige Nahrung reicht mir",
witzelte er verlegen, wenn ich ihm was zustecken wollte. Ich sorgte mich ein wenig um mich
und sehr um ihn. Als er meine Schulter irgendwann selbst nach der siebten Flasche nicht
mehr zum Geradestehen brauchte, sondern nur noch zum Ankuscheln, war mir längst klar,
dass er nicht mehr ohne weiteres aufhören konnte, zu trinken. Er wusste seinerseits, dass
ich trotz meines bereits bedenklichen Untergewichtes nicht aufhören konnte, mir die kranke
Seele aus dem Leib zu hungern. Tabu-Themen, die wir sorgsam mieden. Wir taten einfach so
als würde dieser seltsame Schwebezustand zwischen Erwachsenwerden und Erwachsensein
für immer anhalten.

In den Semesterferien jobbten wir. Nein, wir machten keine Streber-Praktika in irgendwelchen
Hightech-Firmen, um einen kleinen Vorsprung auf der Karriereleiter und möglichst gute
Ausgangspositionen beim Kriechen in Personalchef-Ärsche zu ergattern - wir malochten
einfach nur und zwar hauptsächlich, um unseren ehemals Erziehungsberechtigten zu
beweisen, dass wir „allein klarkommen“. Ich kam immer in irgendeiner Zeitungsredaktion
unter, weil ich den Beruf vorher gelernt hatte. Er nahm, was er kriegen konnte. Keine Arbeit
war ihm zu anstrengend oder zu dreckig. Hauptsache die Bezahlung stimmte einigermaßen.
Meistens half er beim Räumen der vergammelten Wohnungen von Alten, die einsam zwischen
dem Lebensmüll aus achtzig Jahren krepiert waren oder gegen ihren Willen ins Pflegeheim
eingewiesen wurden. „Es ist ekelhaft!“, sagte er. „So werden wir auch irgendwann enden.“
Ich behauptete, dass ich das nicht glauben würde. Ich log.

An jener biernassen, vollgeheulten Theke versoff er das bisschen Lohn dann wieder an meiner
Schulter. „F.A.M“ nannten wir unsere Nächte in der Bar: Frustabbaumaßnahme.

Mir schien, dass nicht nur wir beim Eintritt in den schwarz getünchten, verräucherten Laden
die „Welt da draußen“ hinter uns ließen. Draußen waren seine verdammten Existenzängste,
meine Melancholie, die geldgierigen Vermieter, die kaputten Fotokopierer, die ungeduldigen,
nörgelnden Eltern, die verlorengegangenen Träume vom ehemals heißersehnten
Erwachsenenleben… Drin aber waren das Stimmengewirr und der Schweißgeruch echter
Menschen, gefüllte Bierleitungen, schriller Sound von Iggy Pop und Doppelfrontgesang von
„The Clash“, ein scheppernder Flipper-Apparat und Michi, der Barmann, der immer wütend
schien. Der machte seinem Frust ab und zu Luft, indem er dem defekten Flipper einen
kräftigen Fußtritt verpasste. Ansonsten stand er nur griesgrämig hinter der Theke, zapfte
und spülte. Genau genommen spülte er die Gläser nicht, sondern beschränkte seinen Ehrgeiz
darauf, sie kurzzeitig mit der dreckigen Abwaschbrühe in Berührung zu bringen. Wie gesagt,
wir tranken unser Bier lieber direkt aus der Flasche.

Sommer, Winter, Olympiade, Landtagswahlen, seelischer Kollaps, Upper, Downer, Uni-
Besetzung, darauf folgende Zwangsexmatrikulation einiger unserer engsten Freunde,
Tschernobyl… völlig egal, in diesem Mikrokosmos veränderte sich nichts. Wir standen und
laberten und soffen, versprachen uns hoch und heilig, nie wiederzukommen und waren
spätestens zwei Tage später wieder genau dort, weil uns ohnehin nichts heilig war. Die Zeit
stand still, weil wir sie nicht loslassen konnten, weil wir noch ein bisschen Zeit brauchten,
noch ein bisschen, noch ein bisschen, noch ein bisschen..., weil wir noch nicht soweit
waren, niemals soweit sein würden…

Dann eines Nachts plötzlich dieser ohrenbetäubende Knall, gegen 5.30 Uhr war es, kurz,
ohne Nachhall, scharf und schmerzhaft bis in die Eingeweide. Ich wusste, dass die
Geräuschquelle nicht weit von mir entfernt gewesen sein konnte, verharrte trotzdem wie
paralysiert in unüberwindbarer Schreckstarre. So wie mir schien es auch den Anderen zu
gehen. Schlagartig war es totenstill im ganzen Laden, der sich vom hinteren Bereich her
blitzschnell mit Qualm füllte. Für endlose Sekunden rührte sich niemand von der Stelle.
Jeder schien mitten in der Bewegung eingefroren zu sein. Ich blickte in ratlose Gesichter,
die langsam hinter einer Nebelwand verschwanden. Mehr instinktiv lokalisierte ich den
Ursprung des schrecklichen Geräusches etwa einen Meter rechts von mir und war davon
überzeugt, eine Neonröhre sei geplatzt. Irgendjemand hatte mir mal eingeredet, dass
Neonröhren mit einem wahnsinnigen Knall zerspringen würden, wenn sie ihren Geist aufgeben.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Mein bester Freund packte mich am Arm und zerrte
mich im Menschenstrom hinter sich her ins Freie. Ich begriff gar nichts, registrierte nur, dass
ich fast taub war und dass meine Augen brannten als hätte man mir Tabasco hineingeträufelt.
Irritiert schaute ich mich um. Sowohl mein Freund als auch die restlichen etwa dreißig Gäste
standen Rotz und Wasser heulend und hustend auf der Straße herum und versuchten, sich
mit den Ärmeln die Sturzbäche von Tränen aus den Gesichtern zu wischen.

Es dauerte Minuten bis irgendjemand wieder halbwegs gut sehen und hören konnte. Nur
leises Gemurmel drang zu mir durch. Mir fiel auf, dass diese Beeinträchtigung der Sinne ein
heftiges Gefühl von Einsamkeit auslöste. Man war wie eingesperrt in sich selbst. Oder
vielleicht eher wie ausgesperrt aus der Welt? Einigen Mädchen liefen kleine, schwarze
Wimperntuschebäche über die Wangen bis zum Hals hinunter. Ich dachte kurz, dass das
bei mir genauso aussehen musste, aber der Anflug von Eitelkeit war gleich wieder vorbei,
weil mir einfach zu übel für solche Gedanken war. Dann sah ich durch die Tränen hindurch,
wie der Barmann sich durchdrängte und mit Drohgebärde auf einige Typen zuging. Offenbar
wusste er mehr als ich. Ich folgte seinem zornigen Blick und sah einen jungen Punk in
zerrissenen Jeans und Nietenlederjacke zusammengesunken auf dem Mauervorsprung einer
Schaufensterscheibe sitzen. Er schluchzte ganz erbärmlich und es war eindeutig, dass diese
Tränen nicht nur mit dem dichten, beißenden Qualm zu tun hatten, der noch immer aus der
Spelunke drang.

Sein Kumpel, ebenfalls in Punk-Uniform, hatte ihm tröstend, fast zärtlich, einen Arm um die
Schulter gelegt und schaute nun traurig den Barmann an. „Es tut ihm wahnsinnig leid“,
beteuerte er. „Das war ein Versehen. Er wollte das nicht. Ist runtergefallen. Er wollte uns doch
nur mal die Tränengasgranate zeigen, die er letzte Woche bei der Demo aufgefangen hat.“

Alle schauten jetzt zu ihnen hinüber. Ich zählte im Kopf „21, 22, ...“ und war mir absolut
sicher, dass Michi, der sich bis eben das Geschirrtuch vors Gesicht gepresst hatte,
spätestens bei „25“ zuhauen würde. Seine Körpersprache sagte, dass er eine Scheißwut
hatte und dass der Flipperautomat diesmal nicht ausreichen würde. Offensichtlich war er im
Begriff, zu einem gewaltigen Faustschlag, mindestens aber zu einem ebensolchen verbalen
Hieb anzusetzen. Der Redner mit der grün-rosa Irokesenfrisur blickte nun in die Gruppe.
Seine Augen wanderten von einem fremden, verheulten Augenpaar zum nächsten.
„Gerade ihr müsst doch verstehen wie das ist, wenn man immer nur Druck kriegt. Gerade ihr!
Da ist man eben irgendwann voll daneben. Mensch, wir sitzen doch alle in einem Boot“, fuhr er
halblaut fort. Obwohl alle anderen Laute noch wie aus weiter Ferne in meinem Kopf ankamen,
konnte ich jedes Wort von ihm klar und deutlich verstehen. Er machte, dass ich mich plötzlich
nicht nur kotzübel, verweint und halbtaub, sondern auch splitternackt fühlte. Und ich wusste,
dass ausnahmslos jeder, der dort stand, sich so fühlte. Michi starrte jetzt auf seine
Stiefelspitzen. Er versenkte die Hände tief in den Hosentaschen und presste die Lippen
aufeinander. Alle schwiegen in diesem bizarren Paralleluniversum. Manche nickten kaum
merklich. Die kleine Blonde mit den Strubbelhaaren, die jede Nacht jemand anders nach
einem Schlafplatz fragen musste, ging in die Hocke und nahm ihren Schäferhund-Mischling
in den Arm.  

Lauter kann Stille nicht sein, angefüllt mit stummen Angstschreien, Zorn, Ohnmacht,
Lebenswut, Weltschmerz und Zärtlichkeit.

Ein seltsames Bild, wie sich die Gruppe fremder Vertrauter im Morgengrauen wortlos in alle
Richtungen zerstreute. Mein bester Freund schlurfte noch ein Stück neben mir her, bog an
der nächsten Straßenecke ab und vergaß diesmal, mich nach Hause zu bringen. Er murmelte
nur noch: „Na dann, bis morgen Abend, wie immer.“

Und wir standen am nächsten Abend wieder an der Theke. Wie immer. Fast.

Leilah Lilienruh
 


  
Keine Spuren im Schnee

Man könnte die Stadtrandsiedlung, in der ich die ersten zehn Jahre meiner Kindheit
verbrachte, durchaus als beschaulich bezeichnen, ohne dabei in jene sehnsüchtige
Idealisierung vergangener Tage zu verfallen.
Obwohl diese Wohngegend höchstens drei Kilometer Luftlinie vom Zentrum einer mittleren
Großstadt entfernt lag, störte nur wenig die Ruhe und den geregelten Tagesablauf in den
gepflegten Ein- und Zweifamilienhäusern. Die gesamte Siedlung war in den
neunzehnhundertfünfziger und -sechziger Jahren vor den Toren der Stadt als Antwort auf
die Wohnraumnot der Ostflüchtlinge entstanden, und so trugen sämtliche Straßen und die
allermeisten Hausbesitzer entsprechende Namen.

Direkt neben uns wohnte ein gewisser Stefanovski mit Anhang, hinten grenzte der Garten
der Retzlaws an unser Grundstück, was sehr praktisch war, weil ich wunderbar mit Sohn
und Tochter der Familie spielen und zanken konnte, und schräg gegenüber gab es den Witwer
Kiesow. Stefanovski und seine zweite Ehefrau waren für uns Kinder insofern interessant, als
wir eifrig bemüht waren, ihnen aus dem Weg zu gehen. Mit beiden war nicht gut Kirschen
essen, vor allem dann nicht, wenn es sich um solche drehte, die wir von deren eigenem
Baum stibitzt hatten – dem einzigen herrlichen Schattenmorellenbaum in der ganzen Straße.
Wir fanden, Stefanovski sei selbst Schuld daran, dass ihm gelegentlich Früchte abhanden
kamen, hatte er den Baum doch so gepflanzt, dass man unter einfacher Zuhilfenahme einer
Gartenbank mit einem Holzstuhl darauf, auf dem man einen umgedrehten Eimer platzierte,
ganz leicht über den Zaun an die Kirschen langen konnte.

Der drahtige Mittfünfziger teilte diese Auffassung offenbar ganz und gar nicht und war zudem
in der Lage, gleichzeitig ohrenbetäubend zu brüllen und hinter uns herzurennen. Ich muss
gestehen, dass wir trotz unserer verständlichen Aversion gegen Stefanovski insgeheim auch
eine gewisse Hochachtung angesichts dieser Leistung empfanden - auf jeden Fall dann, wenn
er nicht gerade mal wieder hinter uns her war und wir selbst rennen mussten. Schließlich war
der Mann schon über 30 und fiel somit bei uns Kindern unter die charmante Klassifizierung
„alter Sack“. In seinem Fall fand gelegentlich sogar die Steigerungsform „uralter Sack“
Verwendung. Wir rannten jedenfalls und wie wir rannten, obwohl ich mich heute
vernünftigerweise frage, warum eigentlich. Schließlich kannte er uns ja und wusste genau,
wo wir wohnten. Ich denke, wir fanden es einfach sicherer, auf eigenem Grund und Boden
in Anwesenheit unserer Eltern den Anschiss in der Phonstärke eines startenden Jumbo-Jets
zu kriegen.

Meine Mutter schämte sich zwar insgeheim jedes Mal, wenn er wieder Wut schnaubend vor
der Haustür stand, aber sie tat so, als sei er nur ein durchgedrehter Querulant und ich das
artigste Kind der Welt. Mit ihrer Schimpfe wartete sie aus pädagogischen Erwägungen heraus
immer, bis er definitiv außer Hörweite war.  
Die Sache mit dem In-Schutz-nehmen fand ich ziemlich toll. Meistens traute ich mich in
diesen Augenblicken, extra, nur um ihre flammende Verteidigungsrede und Stefanovskis
dummes Gesicht auch richtig genießen zu können, aus meinem Zimmer heraus und schlich
mich von innen bis dicht hinter den schützenden Rahmen der Haustür und die Kittelschürze
meiner Mutter heran. Das, was folgte, wenn sie nach jenen unergiebigen Diskussionen
irgendwann die Tür vor der großen Nase von Stefanovski schloss, war weniger toll.
Genaugenommen war es viel schlimmer als das Gebrüll und die rote Birne vom Nachbarn,
weil es leise war und weil ihre Worte mir wehtaten. Der Stefanovski, ach, der konnte doch
reden oder schreien, was er wollte. Das ging zu einem Ohr rein und zum anderen sofort wieder
raus. Das war nur ein Spiel, ein kleiner psychologischer Machtkampf „clevere, kleine Kinder
gegen alten Sack“ auf dem Weg und mit dem Zweck des Erwachsenwerdens. Schließlich war
uns tief drinnen doch klar, doch selbst der Stefanovski nicht von Geburt an so schnell rennen
und dabei so laut brüllen konnte, sondern dass auch das absonderlichste Danebenbenehmen
fleißig geübt sein will.
„Was soll nur aus dir werden? Du hast ständig dummes Zeug im Kopf! Das muss an den
Kindern von Retzlaws liegen!“, sagte Mutter dann jedenfalls manchmal traurig, weil sie es
mehr als alles Andere hasste, negativ aufzufallen. Retzlaws sagten übrigens das Gleiche
zu ihren Kindern, nur, dass mein Nachname an betreffender Stelle fiel.

Der dürre, neunzehnjährige Sohn der Stefanovskis, für uns acht- und neunjährige Kinder
ebenfalls schon ein recht alter Kerl, tat mir schrecklich leid. „Kein Wunder, dass der so viele
Pickel hat“, dachte ich: „Bei so einem elenden Gemotze Tag für Tag müssen ja die Talgdrüsen
verstopfen. Und außerdem ist er bestimmt noch in dieser blöden Bubität.“ Ähm, ja, in
südhessischem Dialekt klingt halt alles ein bisschen anders. Ich war mir auch bis zum
fünfzehnten Lebensjahr sicher, dass Alexandre Dumas wackere Helden „Die drei Muskeltiere“
hießen. Man kann sich vermutlich mein Entsetzen vorstellen, als meine Eltern irgendwann
verkündeten, ich würde ebenfalls in diese „Bubität“ kommen. Als Mädchen hatte ich mich
ja ahnungslos auf der sicheren Seite gewähnt. 

Herr Kiesow von gegenüber, der mit Anfang siebzig ja tatsächlich ein älterer Herr war,
gehörte zum Inventar der Straße und fiel nicht weiter auf. Wie dem alten, nussbaumfarbenen
Blumentischchen meiner Großmutter, das, solange ich denken konnte, in einer hellen
Zimmerecke stand und keine andere Funktion hatte, als einen Blumentopf mit einer
hässlichen Kaktee zu tragen und den schmutzig-rußigen Fleck vom ehemaligen
Kohleofenanschluss auf der Tapete zu verdecken, so schenkte man auch Kiesow
normalerweise keinerlei Beachtung.
Man ging an seinem kleinen, moosgrünen Haus vorbei und murmelte „Tag“, wenn er gerade
im Garten zu Gange war, und er murmelte zurück „Tag“. Er rief nicht hinter uns her: „Dass ihr
mir ja von den Gladiolen wegbleibt!“, obwohl sie über den halbhohen Eisenzaun ragten und
zum Abbrechen einluden, doch er fragte auch nicht: „Na, Kinder, mögt ihr ein paar schöne
Äpfel mitnehmen?“. Mein Vater blieb ab und zu an Kiesows Tor stehen und bemühte sich
redlich, einige höfliche Sätze zu erfinden, worin er nicht besonders begabt war: „Schönen
Tag, Wilhelm. Echtes Rosenjahr, wie? Kaum `ne Laus auf den Blättern. Dafür jede Menge
Schnecken im Salatbeet.“ Kiesow grummelte dann irgendetwas vor sich hin, was immer so
klang wie: „Ja, ja, kann man wohl sagen.“
Vielleicht sagte er auch: „Hab’s am Magen“ oder „Tja, kann nicht klagen“. Jedenfalls schien
er nicht weiter an nachbarlicher oder sonstiger Konversation interessiert zu sein. Wenn er
wenigstens dabei den Kopf ein wenig gehoben hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen,
die Worte von seinen Lippen abzulesen. Ich glaube aber, er redete am liebsten nur mit seiner
grauen Katze, die ihm ständig um die Beine strich. Man konnte erkennen, wie er manchmal
ein wenig den Kopf schüttelte oder nickte, wenn sie in der Nähe war, was aus meiner Sicht
ein eindeutiger Beweis dafür sein musste, dass verstehen konnte, was sie miaute.
Meine Mutter erzählte oft, er sei „früher auch mal anders gewesen, als die Martha noch
lebte“, die seine Frau gewesen und zehn Jahre vorher verstorben war. Ich glaube, sie wollte
ihn in Schutz nehmen. Das hätte sie gar nicht gemusst, weil er uns ja wie gesagt sowieso
egal war. Außerdem war er weder ihr Kind, noch hatte er Stefanovski die Kirschen gemopst,
jedenfalls nicht, dass ich gewusst hätte. 

Der Winter des Jahres, in dem ich neun geworden war, begann nach kindlichen Ermessen
mit dem ersten Schnee Mitte Dezember. Zu Ende war ein Winter dementsprechend mit dem
Verschwinden der letzten werfbaren handvoll Schnee.
Mir war nachmittags nach Schule und Hausaufgaben unerträglich langweilig, was einerseits
daran lag, dass mir aufgrund meines von außen gezügelten, großen Tatendrangs ohnehin
ganz schnell langweilig wurde und andererseits daran, dass ich eine starke Erkältung hatte,
mit der ich nicht draußen herumtoben sollte. Obwohl ich meiner Mutter mehrfach versicherte,
dass meine Erkältung nicht das Geringste dagegen hätte, wenn ich mit ihr im Schnee spielen
würde, beharrte sie auf der strikten Isolierung von allem, was angenehme Zerstreuung in
Gesellschaft und an frischer Luft bedeuten könnte. Selbst mein theatralischer Schwur,
keinerlei Obst von Stefanovskis Bäumen zu klauen, entlockte der Frau Mama nur ein
abgeklärtes Augenzwinkern und den Hinweis: „Ach ja, trink mal deinen Kamillentee mit
Zitrone aus. Nachher koche ich dir noch Salbei-Tee.“ Kamille und Salbei - ich glaube ganz
fest, das war Mutters Art mir die Blamage mit den Kirschen heimzuzahlen.
Die Programme im Fernsehen, drei Stück an der Zahl, wurden wochentags erst ab dem
Spätnachmittag ausgestrahlt. Außerdem begrenzten meine Eltern die Einschaltzeiten auf
höchstens eine Stunde pro Tag, da sie der festen Überzeugung waren, Kinder würden sonst
„viereckige Fernsehaugen bekommen“. Damals fand ich das hundsgemein. Heute muss ich
einräumen, dass diese Auffassung, sagen wir einmal mit leicht überarbeiteter Begründung,
gar nicht so verkehrt war. Und ich muss gestehen, dass es eine meiner bescheuerten
Lieblingsweisheiten aus Kindertagen ist, die ich selbst gern und häufig bei meinen eigenen
Kindern einsetze. Inzwischen schlägt man damit sogar gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe.
Der Spruch passt wunderbar auf sämtliche technische Geräte, die die Sprösslinge inzwischen
so bedienen.
Aus schierem Mangel an Möglichkeiten, mir meine Augen oder geistigen und sozialen
Fähigkeiten mit irgendwelchen Medien zu versauen, schlug ich die Zeit damit tot, den Flummi
so lange gegen die Zimmerwand zu werfen, bis meine Mutter zum dritten Mal völlig entnervt
„Ruhe“ aus der Küche brüllte. Ich baute Papierflieger, die mich furchtbar frustrierten, weil sie
absolut fluguntüchtig waren und ließ ein paar Mal Spucke aus dem wenige Zentimeter weit
geöffneten Kinderzimmerfenster auf den Gartenweg fallen. Mich hätte unwahrscheinlich
interessiert, ob und nach welcher Zeit sie auf dem Schnee gefriert, aber das durfte ich ja
nicht kontrollieren. Eines vieler Beispiele dafür, wie kindliches Interesse an Wissenschaft im
Keim erstickt wird.
Ich glaube, meine Eltern hielten grundsätzlich nicht allzu viel von der hobbymäßigen Spuckerei.
„Pfui, tut ein feines, kleines Mädchen denn sowas?!“, empörte sich meine Mutter manchmal.
Ich verstand nicht, wie sie darauf kam, dass ausgerechnet ich wissen sollte, was ein „feines,
kleines Mädchen“ tut und auch nicht, was die Spucke mit dem Geschlecht zu tun haben
könnte, aber Vaters grantiges „Lass die Sauerei!“ sollte wohl andeuten, dass sie es nicht
so schön fanden.
Ich für mein Teil hätte das mit der Spucke durchaus noch eine Weile machen können, wenn
es nicht so erbärmlich eisig ins Zimmer gezogen hätte. Zwar hatte ich meinen Eltern
gegenüber behauptet, das „bisschen Schnupfen“ sei doch schon fast weg, aber die
Halsschmerzen hatte ich geflissentlich verschwiegen. Ich wollte schließlich nicht noch
drei Nachmittage im Haus verbringen und den Salbei gar kauen, was ebenfalls eine sehr
beliebte Heil- und Foltermethode war.

So hockte ich also hinter der Scheibe, die Gardine als Brautschleier um den Kopf drapiert,
und hielt Ausschau nach dem, was draußen vor sich gehen könnte, also im Grunde genommen
gar nichts. Irgendwann kam Stefanovski mit seinem tannengrünen VW-Variant die Straße
hoch getuckert, hielt in seiner Hofeinfahrt und ließ Frau Stefanovski ungefähr fünfzehn
schwere Einkaufstüten ins Haus schleppen, während er ums Auto herumging und sorgsam
nach etwaigen Lackschäden oder Verschmutzungen suchte. Das machte er immer so, sobald
die ersten Krümel Schnee vom Himmel fielen. Erst nach gründlicher Inspektion durfte der
Wagen in die Garage. Vorher wurden noch die Fußmatten ausgeklopft.
Mehr als einen halben Zentimeter hoher Schnee lag niemals in Stefanovskis Einfahrt oder
auf seinem Gehwegabschnitt, denn irgendwie schafften es die Beiden zu jeder Tages- und
Nachtzeit rechtzeitig, dem offenbar höchst gefährlichen, weißen Geriesel zu Leibe zu rücken.
Kaum hatte die Nachbarin ihre Einkaufstüten verstaut, da erschien sie auch schon wieder mit
dem Besen bewaffnet vor der Tür und legte wütend los.
Schade, dass ich nicht raus durfte. Es schneite mittlerweile wie verrückt, und Schnee
schippen machte mir ehrlich gesagt auch ziemlich viel Spaß, jedenfalls ab und zu, soll
heißen, wenn ich nicht von den Eltern zum Schippen genötigt wurde. Man konnte dabei ja
auch die eine oder andere Pause einlegen und interessante Sachen machen, wie zum Beispiel,
eine saumäßig glatte Schlidderbahn vor die Haustür rutschen oder mit Schneebällen kreative
Muster an die Hauswand schmeißen. Beides fanden meine Eltern wiederum nicht halb so toll
wie ich. 

Ich begnügte mich also missmutig mit Zugucken. Schön machte sie das, so ordentlich.
Die Holzschippe hinterließ fast hundertprozentig parallele Bahnen auf dem Boden. Den kleinen,
hochstehenden Grat dazwischen kehrte sie anschließend auch noch fort. Auf ihrem Kopftuch
und dem dauergewellten Pony lagen mittlerweile mindest drei Zentimeter Neuschnee. Es
schneite und schneite. Gegen siebzehn Uhr kehrte sie zum dritten Mal, jedes Mal mit einem
anderen Kopftuch auf. Sie besaß offenbar sehr viele verschiedene Tücher. Mich wunderte nur,
dass sie nicht ein einziges mit einem hübschen Muster gekauft hatte, nicht mal aus Versehen.
Statistisch gesehen wäre das doch durchaus möglich gewesen.
„Na so was, Kiesow hat wohl heute keine Lust zu schippen!“, ging mir durch den Kopf.
„Vielleicht hat der auch Halsweh. Aber wer macht denn dann den Schnee bei ihm weg? Der
traut sich ja was.“ Mein Vater behauptete nämlich immer, dass man „dran sei“, wenn man
den Schnee liegen ließe und irgendeiner fiele deswegen auf die Nase. Ich ging fest davon
aus, dass „dran sein“ gleichbedeutend mit zehn Jahren Zuchthaus wäre.
Also, „Nase“ sagte er eigentlich nicht direkt. Er setzte dafür eine Stelle auf der unteren
Körperrückseite ein und Mutter zischte dann immer: „Drück dich doch nicht so ordinär aus!“
Keine Ahnung, warum sie geflüstert hat. Er hatte sein Wort ja schließlich ziemlich laut gesagt.

Da ich keine Petze war und der Kiesow mich auch nicht geärgert hatte, behielt ich seinen
Verstoß jedenfalls für mich. „Wenn der ins Zuchthaus muss, ist er womöglich schon tot,
wenn er wieder rauskommt!“, dachte ich mir mitleidig und außerdem war ja auch noch keiner
auf den A... ähm... auf die Nase gefallen.
Der schöne Schnee schmolz ohnehin schon am nächsten Morgen gänzlich dahin. In der
Schule schlossen wir Groschen-Wetten ab, ob wir denn nun weiße Weihnachten kriegen
würden oder nicht. Der Klaus Retzlaw durfte einen angelutschten Fußball-Lolli als Einsatz
verwenden, weil er seinen Groschen auf dem Schulweg bereits da rein investiert hatte. Alle
Groschen kamen in eine Tüte und der Lolli klebte ziemlich fest daran, weil Klaus die Verpackung
schon weggeworfen hatte. Dem Lehrer zum Trotz, der statistisch argumentierte, dass
Weihnachten mit Schnee eher unwahrscheinlich sei, aber nicht an der Wette teilnahm,
ließen wir unserem Wunschdenken freien Lauf und stimmten alle mit „ja“.
Auf dem Heimweg musste ich plötzlich drüber nachgrübeln, was eine Wette, bei der es keine
Gegenstimmen gibt, eigentlich für einen Sinn haben sollte, aber immerhin behielten wir Recht.
Pünktlich zum Beginn der Weihnachtsferien am einundzwanzigsten Dezember setzte der
ersehnte Schneefall wieder ein, erst ein wenig zaghaft und flüchtig, dann mit Absinken
der Temperaturen schön kräftig und haltbar.

Nun hätte mich nicht einmal mehr eine ausgewachsene Angina im Haus halten können,
obwohl das Wort für mich sehr gefährlich klang und ich nicht wusste, dass meine Mutter
damit eine  ganz gewöhnliche Mandelentzündung meinte. Kein Wunder, dass ich es nicht
wusste, rief sie doch aus, sobald ich zugab, dass meine Rachenmandeln schmerzten: „Oh,
das kann aber ganz schnell eine Angina werden!“
Alles, was mich jetzt noch störte, war, dass die Strickmütze mit den Strickhandschuhen
und den langen Stricksocken um die Wette kratzte, vor allem in nassem Zustand. Wer ist bloß
jemals auf die Idee gekommen, dass man Schafwolle für etwas Anderes als das Wärmen von
Schafen verwenden könnte? Und hätte man Fleece-Stoffe nicht früher erfinden können?!

„Guck mal“, meinte der Klaus Retzlaw irgendwann zwischen zwei Schneebällen zu mir, „der
alte Kiesow lässt’s liegen!“ Und in der Tat hatte sich auf dem Bürgersteig und auf dem Weg
zu seiner Haustür eine geschlossene Schneedecke gebildet, völlig „jungfräulich“, wie mein
Vater das nannte. Kein einziger Fußstapfen führte zur Tür und auch keiner hinaus zur Straße.
Klaus hielt seine Hand senkrecht hinein und schätzte: „Zwölf Zentimeter sind das, locker.“
Ich nutzte die Gelegenheit ihm heimtückisch mit meinem Reserve-Schneeball so richtig einen
an die Mütze zu verpassen, bevor ich ebenfalls meine Hand eintunkte und fachmännisch
verkündete: „Stimmt, mindestens zwölf, wenn nicht sogar 13.“ Zwar könnte ich selbst heute
noch nicht exakt zwölf Zentimeter mit den Fingern zeigen, aber was zählte, war die
Ungeheuerlichkeit dieses Schnee-Verstoßes, die wir mit strengen Mienen würdigten.
Das war nun aber wirklich komisch, gar nicht die Art vom Kiesow. Seinen Garten hatte der
jedenfalls immer tiptop in Schuss, und samstags wurde die Straße gefegt. Der alte Knabe
musste schon so eine teuflische Angina haben und nicht nur Halsweh oder so, überlegte ich.
Nach dem Abendessen ging ich an mein Zimmerfenster und schaute noch einmal hinüber. Der
Schnee lag immer noch genauso wie vorher. Mir fiel auf, dass auch nirgendwo im Haus Licht
brannte, weder da, wo ich das Schlafzimmer vermutete, weil manchmal Bettzeug im Fenster
lag, noch da, wo der Fernseher sonst abends immer durch die Gardinen strahlte.
„Na klar, der Kiesow ist im Urlaub!“, ging mir plötzlich ein Licht auf: „Der hatte keine Lust,
schon wieder Weihnachten allein rumzusitzen und ist einfach weggefahren, zu Verwandten
oder in die Berge.“
Ich freute mich über meinen Geistesblitz und ging zufrieden schlafen. Vorm Einschlafen fiel
mir noch ein, dass ich ja am nächsten Tag seinen Bürgersteig freischippen könnte. So hohen
Schnee hatte ich noch nie zu schaufeln gekriegt. Aufs Grundstück traute ich mich nicht.

Heiligabend begann in meiner Kindheit später als heute. Das lag daran, dass die Leute am
24. Dezember noch bis Mittag zur Arbeit gehen mussten, wenn er nicht gerade auf einen
Sonntag fiel. Wir Kinder wurden von den gestressten Müttern gern noch ein bisschen vor
die Tür gescheucht, damit sie Ruhe hatten, alles vorzubereiten: das Abendessen, die
Geschenke, die Garderobe für den Kirchgang. Damals war ich noch felsenfest davon
überzeugt, den Müttern würde das alles unwahrscheinlich viel Spaß machen, sie würden
sich förmlich drum reißen, tagelang all diese Bleche mit Plätzchen und Stollen zu backen,
das Haus zu putzen, Einkäufe heimzuschleppen, Schwiegereltern einzuladen und Vätern wie
Kindern die passende Garderobe aufs Bett zu legen.
Eigentlich traurig, dass Mutter erst 70 Jahre alt werden musste, bevor sie irgendwann vor
versammelter Verwandtschaft erklären konnte: „Das hat mich ja alles dermaßen angekotzt!“.
Dabei hat sie laut gelacht, und geheult hat sie auch ein bisschen. Zwei dicke Tränen sind
auf ihre Jeans gefallen, denn „fein“ macht sie sich zu Weihnachten schon lange nicht mehr,
sondern meistens mittwochs zum Straßekehren. Alle haben verlegen gelächelt, bis auf Tante
Sophie. Die hat aus dem Schaukelstuhl in der Ecke gerufen: „Mich auch!“ und vergnügt
Supermarkt-Weihnachtsplätzchen in den Mund geschoben.

Ich nutzte jedenfalls damals die Zeit zum Schneeschippen, bei uns und bei Kiesow. Während
ich mich abmühte, Schaufel um Schaufel auf die mittlerweile beachtlichen Hügel zu türmen,
bemerkte ich ein eigentümliches Geräusch. Es kam offenbar aus Kiesows Haus und klang
irgendwie schauerlich. Natürlich war ich furchtbar neugierig, aber in den Garten zu gehen,
kam wie gesagt nicht in Frage. Ich überlegte kurz und rannte dann durch unseren Garten
hinüber zu Retzlaws, um den Klaus zur Verstärkung zu holen, der gerade in die Badewanne
sollte.
Seine Mutter konnte noch hinterherrufen: „Aber in zehn Minuten bist du wieder hier. Dann
ist das Wasser im Boiler warm.“ Gemeinsam waren wir mutig genug, uns über den Rasen auf
das Grundstück und unter das Fenster zu schleichen, aus dem immer noch jenes kreischende
Geräusch drang. Genau genommen schob der Klaus mich ganz dicht vor sich her bis zu
besagter Stelle und atmete mir dabei die ganze Zeit nervös in den Nacken, so dass ich
anschließend dort fror. Den Plattenweg mit dem jungfräulichen Schnee wollten wir lieber nicht
betreten. Wir bildeten uns ein, dass das widerrechtliche Betreten des Grundstücks über den
Plattenweg wesentlich widerrechtlicher sei als über das Gras.
Sehen konnten wir nichts, weil das Fenster zu hoch war, aber aus diesem Raum seitlich des
Hauses drang ein schwacher Lichtschein. „Mach mal `ne Räuberleiter!“, befahl ich, und Klaus
gehorchte notgedrungen, weil ich meinen besten Befehlston benutzte, ein Mädchen war und
außerdem leichter als er. Bis heute wünschte ich inbrünstig, ich hätte ihm die Räuberleiter
gemacht.

Zuerst konnte ich im Halbdunkel des Raumes fast nichts erkennen, obwohl ich angestrengt
guckte und mir die Nase an der kalten Scheibe plattdrückte. Selbst in diesem Augenblick
konnte ich nicht vermeiden, dass mir einer meiner recht seltsamen Gedankengänge durchs
Hirn schwirrte: „Ob die Polizei wohl Nasenabdrücke wie Fingerabdrücke nimmt“, so  grübelte
ich, „und damit solche neugierigen Fenstergucker wie mich überführen kann?“
Nach einigen Sekunden hatten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt und es
tauchten Küchenmöbel, Herd und Spüle auf, wiederum einige Sekunden später die
Geräuschquelle. Es war Kiesows alte, graue Katze. Sie stand an der verschlossenen Zimmertür
und schrie entsetzlich. Ihr jämmerlicher Hilferuf erinnerte an das Kreischen eines Babys. Ich
merkte, wie mir eine Gänsehaut unter dem dicken Anorak über Arme und Rücken kroch.
„Verdammt, der hat einfach seine Katze zu Hause vergessen!“, dachte ich einen Augenblick
lang wütend. Klaus hatte derweil unten seine Mühe seine Funktion als Räuberleiter anständig
zu erfüllen und wackelte dermaßen, dass ich mich an der Fensterbank festklammern musste,
um nicht in den verschneiten Gartenbeeten zu landen. „Mensch, pass doch auf!“, meckerte
ich von oben. „Mensch, sag du lieber, was du siehst!“, konterte Klaus. „Katze.“, entgegnete
ich jovial. „Nichts als Katze. Der hat das arme Vieh hier gelassen. Vielleicht sogar mit Absicht.
So‘ n Tierquäler, so‘ n elender.“
„Bah, und du hast dem fiesen Kerl noch den Bürgersteig geschippt!“, echauffierte sich jetzt
auch Klaus: „Komm endlich runter. Mir fallen die Arme ab. Du hast zu viele Weihnachtskekse
in den letzten Wochen gefressen.“
„Nee, hab‘ ich nicht. Du bist nur zu schlapp, Klausi. Jetzt halt doch noch einen Moment
durch“, gab ich zurück. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, genau hier oben, mit meinen
Winterstiefeln auf Klaus‘ Handschuhen und meinen Handschuhen auf Kiesows Fensterbank,
noch ein bisschen meiner Verärgerung nachzuspüren. Wann würde sich schon wieder einmal
eine Gelegenheit bieten, so richtige große, berechtigte, moralisch akzeptierbare Wut zu
empfinden. 

Plötzlich wich die Wut allerdings blankem Entsetzen. Für einen Augenblick war ich nicht mehr
in der Lage den weit aufgerissenen Mund zu schließen, so dass die Scheibe vor mir atemfeucht
beschlug und die Sicht auf die makabere Szenerie vernebelte. Dann wischte ich rasch eine
kreisrunde Stelle mit den Fäustlingen frei und hielt den Atem an: Der alte Kiesow hatte seine
Katze gar nicht vergessen. Er selbst war vergessen worden, von aller Welt. Völlig regungslos
mit weit offenen Augen lag er auf der Eckbank. Ein Arm hing schlaff herunter, der andere lag
auf seinem Bauch. Vor ihm auf dem Tisch stand ein gefüllter Suppenteller. Ich war neun Jahre
alt, aber ich kapierte sofort, dass Kiesow  in diesem Zustand keinen Schnee schippen konnte
und auch, dass er keine Gladiolen mehr pflegen würde. Wir verließen das Grundstück schreiend
und schnurstracks über den Plattenweg.

Bei Klaus fiel das Baden an diesem Abend aus und bei uns zu Hause der Kirchgang.
Stattdessen standen meine Eltern und ich am Fenster in meinem Kinderzimmer und sahen,
wie Arzt, Polizei und Feuerwehr durch den unberührten Schnee in Kiesows Haus und eine
Stunde später mit Kiesow in einer Metallkiste wieder hinausgingen. Die Stefanovski erzählte
meiner Mutter, sie hätte aufgeschnappt, dass der Verstorbene dort nach seinem Herztod
schon mindestens zehn Tage gelegen habe.
„Die arme Katze, das gute Tier“, seufzte sie, während sie sich voller Hingabe den
schnurgeraden Linien ihrer Schneeschaufel in der Einfahrt widmete. „Man stelle sich nur
mal vor, irgendjemand wäre gestürzt und hätte sich etwas getan, weil beim Kiesow alles
liegengeblieben ist.“

Am Morgen des ersten Weihnachtstages hörte der Schneefall auf. Das vorher makellose,
glitzernde Weiß auf Kiesows Plattenweg sah schrecklich aus, vollkommen zertrampelt mit
vielen verschiedenen Sohlenabdrücken darin. So viel Besuch hatte der alte Herr bestimmt
seit zehn Jahren nicht mehr gehabt. 

Ich lief mit unserer Schneeschaufel hinüber und schippte den Weg blitzblank.

Leilah Lilienruh

 


 
Auf stiller Zuversicht

Gedanken übers Schweben, Versinken und Auftauchen


Mein Federkleid wird langsam dichter.

Ich hülle mich frierend darin ein,

bedecke die Schrunden und Narben,

muss nicht mehr rupfen und putzen.

Noch taugt es nicht zum Fliegen,

doch morgen schon werde ich üben,

ein Teil meines Himmels zu sein.

Mein Spiegelbild wird langsam klarer.

Ich stehe mir selbst vis à vis,

kann endlich den Augen entlocken,

wer ich war und wer ich ab heute erst bin.

Die Scherben verschmolzen zu zartester Fläche,

der See darunter ist tief.

Ich musste zum Grund hinab tauchen.

Nun treibe ich trotzig auf glasgrüner, stiller Zuversicht.


Gestern ist nicht einfach nur gestern. Es ist Traum, ein Traum aus vergangener Zeit, ein
Albtraum, den irgendwer träumte, nicht ich, irgendwer, nur nicht ich. Vielleicht war die Frau,
die ihn träumte, mein anderes, gestriges Ich. Sie erzählt mir von all jenen Schrecken, dass
ich heil werden muss und sie halte als wäre sie Kind und ich Frau.
Sie sagt mir, sie hatte einst Flügel mit denen es leicht war, zu schweben. Mit nur einem
Schlag ihrer Schwingen erreichte sie Venus und Sterne, umkreiste den Mond und die Erde
und landete lachend auf seidenen Kissen ganz oben im Elfenbeinturm. Schwerelos war sie,
die Unschuld.

Vom Mars mit all seiner Kälte, sagt sie, hat sie nichts gewusst. Was weiß schon ein Kind
von marsianischer Röte, von der pochenden Wutader männlicher Schläfen, vom Kriegsgott
und Phobos und Deimos, die ihn stets begleiten.

Mein gestriges Ich streckt die Hand aus und führt mich durch gestrige Räume, wo es einfach
war, aufrecht zu gehen. Auf Zehenspitzen kann man bis hinter den Horizont blicken, dorthin,
wo das Leben so grenzenlos scheint, so sorglos im stetigen Aufwind. Hinterm Horizont lag die
Zukunft, ganz leicht zu erreichen mit mächtigen Flügeln gesponnen aus Leichtsinn und Mut.

Ach, könnte dies Kind doch ewig verharren im sicheren Raum zwischen Wollen und Werden.
Doch der Mars ist gemein. Verbirgt sein Gesicht hinter nebligen Worten, dass die Röte wie
zartblasses Rosa erscheint, hüllt seine eiskalte Haut in flauschige Lügengespinste, füllt sich
die Taschen mit Liebe, mit Unschuld und Dummheit.
Tausend Lügen, zwei Fäuste und ein hämisches Grinsen, mehr braucht’s nicht, um Flügel
zu brechen. Mehr braucht’ s nicht, um Menschen zu brechen.

Erst flog dieses Kind, dann lag es, dann sank es. Und schließlich begann es, sich selbst die
nutzlosen Federn aus Flügeln und magerem Leib auszureißen. Wozu soll ein Federkleid taugen,
das nichts ist als nutzloser Schmuck.  
Am Ende der Unschuld taucht ein Albtraum den kindlichen Körper in tiefschwarze, ewige Nacht,
und durch diese Nacht fliegt Mars mit Phobos und Deimos in seinem Geleit.

All seine schillernden Federn musste der kleine Mensch geben, bis er hinuntersank auf den
Grund jenes Sees, von wo aus man den Himmel nicht mehr sieht. Tausend Demütigungen
lang lag er dort und glaubte sich, dass es die Welt nicht mehr gibt und wollte, dass es die
Welt nicht mehr gibt. Dann wuchs der Gedanke; so undenkbar, so absurd, dass er schreien
musste, um gehört zu werden: "Du musst dir selbst die Augen öffnen, um aus hemmungsloser
Ohnmacht zu erwachen!" 

Und was es sah, ließ das federlose Wesen froh und traurig werden und viele schwere, alte
Tränen weinen. Mit jeder Träne wurde es ein wenig leichter und stieg an die Oberfläche empor.
 

Nun treibe ich trotzig darauf.

Mein Federkleid wird langsam dichter.

Ich streiche sanft darüber.

Bald werde ich wieder fliegen können... bald... bald...

Hinterm Horizont liegt immer noch die Zukunft. Ich kann sie wieder erkennen.

Mars und seine Söhne habe ich in dunkler Tiefe unter mir zurückgelassen.

Manchmal kann ich ahnen, wie sie drohend brüllen,

doch ihr Ruf erreicht mich nicht, denn der Federflaum wächst auch in meinen Ohren.

Das macht mich heiter und lässt mich meinem Spiegelbild im See ein Lächeln
schenken.



Leilah Lilienruh
 


  
Dein letzter Törn, Skipper

Wir haben Deine Asche ins Meer gestreut und weitergelebt. Ein Jahr ist das her. Der November
nahm Dich mit über die See. Hast du Dir deinen letzten Törn so vorgestellt?
Der Wind wie Du ihn magst, ein guter Wind zum Absegeln. Er wehte uns die Gischt direkt in
unsere Gesichter und mischte so ihr Salz mit unserm Salz der Tränen, um dann Dir zu Ehren
ablandig zu werden. Nie wieder wird die Luft so schmecken.
„Hört auf zu heulen!“, hättest Du gesagt: „Alte Männer müssen eben irgendwann mal draußen
bleiben.“ Du hättest nicht geheult. Dein Seesack war gepackt. Das war er immer. Alles
ordentlich verstaut: Das Ölzeug, Karten, Taschenmesser… und diesmal auch ein Stückchen
Herz von Deiner Crew.
Ein Jahr habe ich gebraucht, die Leinen los zu machen, ein Jahr Dir zu verzeihen, dass ich an
Land zurückgelassen wurde. Und habe es nicht geschafft. Früher hast Du mich immer
mitgenommen. „All hands on deck!“, hast Du gebrüllt, Du eiserner Tyrann, und wir standen
vor Dir wie ein Mann. Ja, Du liebtest das Kommando und wir wollten Dir gehorchen, weil Du
der Skipper warst, der uns sicher wieder in den Hafen brachte und der jeden Preis gewann.
Jetzt stehe ich zum ersten Mal seit jenem Tag am Steg. Dein Boot liegt ungetakelt. Nur der
Verklicker vom Boot nebenan flattert munter am Masttop als wollte er mich locken, allein
hinaus zu segeln. Doch als Einhandsegler bin ich ungeeignet. Du konntest das. Du hast uns
nicht gebraucht, nur mitgeschleppt und dafür gesorgt, dass wir uns wichtig fühlten. Bei jeder
Halse warst Du nach „Fock fällt“ der letzte, der den Kopf einzog, selbst wenn Dein Schoter an
der Wendeboje einmal pennte. Den Kopf gewaschen kriegte ich dafür erst später ohne
Publikum an Land. „Wen wolltest du ermorden?“, schriest Du mich dann an und warst nach
zehn Minuten wieder gut.

Für Dich gab es nur einen Kurs:„hart am Wind“. Und Wind fing bei Dir erst bei „frischer Brise“
an. Fahrt machen, wolltest Du, richtig Fahrt machen. Vorher fasstest Du die Takelage nicht
mal an, hocktest eher grimmig vor der alten Kneipe in der Bucht und starrtest in den Himmel.
Ob Du für Wind gebetet hast? Dafür vielleicht. Ansonsten warst Du niemals fromm.
„Beim Segeln muss der Arsch nass werden, sonst kann man gleich ein Kaffeekränzchen
halten!“, war Deine Devise, und Du gingst immer nass von Bord.
Der Anleger schwankt herrlich unter meinen Füßen. Ich muss die Augen schließen, damit
ich Dich erkenne. Du gehst mit weichen Sohlen auf den Planken, Dein Seesack über rechter
Schulter, die rote Kappe in der Stirn. Und hinter Dir rennt dieses kleine Mädchen mit braunen
Zöpfen und kommt kaum mit. Du würdest niemals warten. Dann hopst sie hinter Dir ins Boot,
wird aufgefangen und in Schwimmweste verpackt. Du brüllst „Alle Mann an Bord?“ und lachst
laut auf. - Ich war acht Jahre alt beim ersten Törn.
Nach jedem Abschlagen schwammen wir noch um die Wette zur ersten Wendeboje. Du hast
mich nie gewinnen lassen. Manchmal durfte ich den Seesack heimwärts schleppen und hätte
nie erlaubt, dass Du das schwere Ding von meinen schmalen Schultern nimmst. Und während
ich versuchte, Schritt zu halten, saugte ich begierig ein, was Du mir von der weiten Welt
erzähltest.
Die Anderen und ich, wir hatten uns fest vorgenommen, Dich diesen Sommer stolz zu machen.
Doch ohne unsern Skipper konnten wir das Blaue Band nicht holen. Gib’ s zu, das freut Dich
fast noch mehr.
Ich habe Dein Klavier gespielt, erst heute Morgen wieder. Der „Merian“ und all die Scheiben
von den alten Jazzern, die sind bei mir in guten Händen. Die landen nicht bei Ebay oder
zwischen irgendwelchen abgeliebten Flohmarktsachen. Mach dir keine Sorgen.

Doch dieses Boot hier will ich nie mehr sehen und diesen Steg nie mehr betreten, denn das
warst Du, und Du ließt mich zurück an Land, gingst ganz allein auf deine letzte Reise.

Mast- und Schotbruch, Skipper, wünscht Dir

Deine Nichte

Leilah

 

 

 




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