Leseproben von einigen unserer Autoren
Übersicht der Leseproben (Direktlinks):
In glasgrüner Stille
(Leilah Lilienruh)
Die Stimme im Dunkeln
(Nash D. Hendriks)
Die Eagle-Synchronizität
(Nash D. Hendriks)
Bitte recht freundlich (Horatio "Hudl" Heisenberg)
Als ob das Leben Balken hätte (Horatio "Hudl" Heisenberg)
Durch neunzig Jahre des Vergessens (Leilah Lilienruh)
Freunde (Leilah Lilienruh)
Die Begegnung (Leilah Lilienruh)
In glasgrüner Stille (Leilah
Lilienruh) ...Am Grunde meines Sees liegt eine Geschichte,
die niemals erzählt werden sollte. Wir alle
hatten gehofft, dass die Wahrheit
irgendwann für immer unter einer dicken Schicht aus
Schweigen und Sediment
verschwinden würde. Unser Gewissen konnten wir nie zum
Schweigen bringen. Wie
sollten wir auch, wo wir dem abgrundtiefen Selbsthass doch immer
wieder neues Futter gaben. Es hat all die Jahre über gnadenlos an uns genagt und tiefe
Löcher
hinterlassen,
wo Selbstachtung ihren Platz haben sollte.
Es scheint, als ob der Rand dieser Gruben bröckelt und wir in unsere eigenen
Abgründe
hineinstürzen. Unterdessen sind wir fleißig unserer Arbeit
nachgegangen, haben neue Häuser
gebaut, Hochzeiten gefeiert, Alte beerdigt und
Kinder aufgezogen. Immer war sie präsent und
hat wie eine dunkle Wolke über der
Bucht geschwebt - unsere unverzeihliche Schuld.
Insgeheim haben wir uns
vermutlich gewünscht, einer von uns würde es irgendwann nicht
mehr ertragen und
es laut hinausschreien. Nur wollte keiner derjenige sein - auch ich nicht.
Ich wünschte, ich könnte die letzten Wochen aus meinem Gedächtnis löschen und in
mein
belangloses Leben zurücksinken. Ich würde weiter Tische decken und Betten
beziehen, zwei
Mal im Jahr fort in Urlaub fliehen, den Ort verfluchen und immer
wieder heimkehren, denn hier
gehöre ich ja her.
Nun aber schaue ich zum letzten Mal zurück zum See. Ich habe Bargelow auf der
einzigen
Straße verlassen. Keiner hat mir nachgewinkt oder insgeheim gedacht:
»Sie kommt nicht
wieder.«, denn was ich jetzt tue, ist das Resultat der einsamen
Entscheidung einer einzigen
Nacht, wenn es auch viele Jahre gedauert hat, bis
ich endlich bereit war, sie zu treffen.
Hinter mir im Kofferraum liegen zwei Taschen, die nicht viel mehr enthalten als
ein paar
Kleider und Papiere. Alle Erinnerungsstücke lasse ich hier. Die Bilder
in meinem Kopf muss
ich mitnehmen, egal wohin ich gehen werde. Nichts auf der
Welt kann sie jemals wieder
verschwinden lassen oder meine Schuld verringern.
Sie minimiert sich nicht, indem man
sie durch die Anzahl der Köpfe oder Ausreden
teilt.
Die Straße führt noch ein Stück um den See herum bevor sie abzweigt und im Wald
verschwindet. Ich habe mitten auf der Fahrbahn angehalten und ziehe den
feucht-kalten
Morgenduft unseres Tales durch das heruntergekurbelte
Seitenfenster tief in meine Lungen.
Langsam gleitet mein Blick über den
vertrauten Hort meines bisherigen Lebens, nimmt
Abschied von jedem Haus und
Baum, an Land und im Spiegelbild des Sees. Mein Schicksal
ist es, einen Bann zu
brechen. Wenn unsere Geschichte erzählt ist, wird es kein Zurück
mehr geben. Das
neue Bargelow wird, zerschlagen und gesprengt von bitterwahren Worten,
in einer
Woge des Abscheus versinken, so, wie der alte Ort einst in Wasser und Schlamm.
Es ist der Moment, nach dem wir uns im Grunde unserer Herzen alle so lange
gesehnt haben:
der Augenblick unserer Erlösung und Strafe...
*
Wider jede Vernunft rannte ich stolpernd über den
unbeleuchteten, geschotterten Parkplatz
zu meinem Wagen und raste zum Gasthaus
zurück, war einfach nicht bereit, zu akzeptieren,
was ich doch längst wusste.
Atemlos stürzte ich die Stufen zu den Gästezimmern hinauf.
In meinem Kopf schrie
es unentwegt: »Bitte, bitte, bitte…!«
Mit rasendem Herz drückte ich die Türklinke hinunter, schob einen Spalt auf und
lauschte.
Es war still. Die Deckenlampe in Andersons Raum brannte. Zitternd
setzte ich auf dem
fusseligen, alten Teppichboden einen Fuß vor den anderen. Die
Badezimmertür stand weit
offen. Hier drin brannte kein Licht. Aus irgendeinem
Grund ergriff mich dennoch ein Gefühl
panischer Angst, mich diesem Raum zu
nähern. Ich konnte den Puls in meinen Ohren dröhnen
hören. Gegen einen inneren
Widerstand musste ich mich zwingen, die letzten beiden Meter
bis zum Bad zurück
zu legen.
Der einfallende Schimmer der Schlafzimmerlampe genügte, um die grauenhafte
Szenerie
auszuleuchten und mich erstarren zu lassen...
...Vorsichtig lugte ich um die Ecke ins Badezimmer, wo nun die kleine,
altmodische
Deckenfunsel aus Kristallglas das morbide Stillleben in ihr
Facettenlicht tauchte.
Meine Mutter hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Ihr
erstarrter, ausgemergelter Körper
gehörte ins Gruppenbild des Todes. Nur ihre
rechte Hand bewegte sich in immer gleicher
Weise. Sie streichelte unentwegt über
die kleine Hand Benjamins. Dabei starrte sie ins Leere.
Zwei Tränenströme liefen
glänzend über ihr Gesicht, sammelten sich am Kinn und fielen dann
und wann in
dicken Tropfen auf den alten Bademantel, den sie über ihrem Nachthemd trug.
»Hast du das getan, du bösartiger, eiskalter Mensch?«, flüsterte ich heiser. Sie
hob das Kinn
als würde sie aus einem tausendjährigen Schlaf erwachen und sah
mich einen Augenblick lang
ungläubig an. Ein tiefer Schmerz lag in diesem Blick.
Dann schüttelte sie leicht den Kopf und
antwortete so leise, dass ich es kaum
verstehen konnte: »Nein, mein Kind. Ich habe das nicht
getan.«...
*
...In der ersten Reihe des Seitenschiffes, nicht
weit von ihm entfernt, regte sich etwas.
Eckhard wendete sich rasch dort hin und
schaute direkt in Hinrich Nanssens dunkle Augen.
Er hatte den Kopf eigenartig
zur Seite gelegt und grinste ihn nun an. In dem Moment, in
dem sich ihre Blicke
trafen, löste sich Eckhards eigenes Schmunzeln schlagartig auf.
Erstaunt
wanderten seine Mundwinkel nach unten und plötzlich durchzuckte ihn eine
unheilvolle Vorahnung, die er durch fast unmerkliches Kopfschütteln von sich
abzustreifen
versuchte. Nanssens Gesicht war zwar wie zu einer Art
eigentümlichem Lächeln verzogen,
aber es war nichts Sanftmütiges, Freundliches
in seiner Mimik. Es war die grinsende,
zähnefletschende Grimasse eines wilden
Tieres, bevor es die messerscharfen Zähne tief in
den Hals des Opfers haut und
ihm die Schlagader herausreißt. Die Augäpfel des Mannes
sprangen dabei
blitzschnell von einer Seite zur anderen. Etwas unberechenbar Wirres,
Unaufhaltsames lag in diesem Blick. Eckhard machte reflexartig einen Schritt
zurück und
presste die Heilige Schrift wie ein Schutzschild vor den Bauch...
Die Stimme im Dunkeln (Nash D.
Hendriks)
In einer einsamen Jagdhütte am düsteren Nadelwald im November ereigneten sich
Dinge,
die
grausig und sonderbar klingen, aber so und nicht anders tagtäglich in einsamen
Hütten
oder belebten Geschäftshochhäusern geschehen.
Zäher, bodennaher Nebel
umfing Hütte und Wald. Nieselnder Regen durchnässte die üppige
Landschaft und
die drei Gestalten, die sich gesenkten Hauptes, auf schmal eingetretenem
Pfad
dem unscheinbaren Holzhaus am Waldrand näherten. Ihre weiten, dunkelgrünen
Regencapes mit Kapuze verhüllten Gesicht und Statur, so dass von weitem nicht zu
erkennen war, welchem Geschlecht diese Personen angehörten. An den Füßen trugen
sie derbe, halbhohe Wanderschuhe, wie sie gewöhnlich von Männern bevorzugt
werden,
auf ihren Rücken drei gleiche dunkelbraune Rucksäcke, die, wie es
schien, schwere Last
enthielten.
Offenbar hatten sie ein Ziel
und eine Zeit, denn ihr Gang war fest und entschlossen,
wenngleich ohne Hast.
Etwa zwanzig Meter von der Hütte entfernt blieb der Erste kurz
stehen, wandte
sich schweigend seinen Gefährten zu und deutete auf das kleine hölzerne
Haus zwischen den Fichten. Die beiden Hinteren nickten. Man steuerte direkt auf die
Hütte
zu, zog den Schlüssel unter einem Topf auf der äußeren Fensterbank hervor,
schloss die
schmale Eingangstür auf und trat ein.
»Wohin sollen wir sie
stellen, Jack? «, fragte einer der Männer, ein smarter Endzwanziger mit
dunkelblondem, glatt zurückgekämmtem Haar, unsicher einen Begleiter mittleren
Alters mit
breitem Kreuz und deutete dabei auf die mittlerweile abgelegten
Rucksäcke in der
Zimmermitte.
»Dort in den Schrank.«, bestimmte dieser resolut
und wies auf einen schlichten zweitürigen
Schrank in einer dunklen Ecke des
einzigen Raumes. »Meinst du, da sind sie sicher?«, warf nun
der dritte Mann
besorgt ein. Er war kleiner und korpulenter als die anderen Beiden. An seinen
Schläfen und in den kurz rasierten Koteletten zeigten sich bereits erste graue
Haare. »Siehst
du einen besseren Platz, Mike?«, entgegnete der mit Namen Jack
nüchtern. Der Angegraute
drehte sich sekundenlang nervös suchend im Kreis, band
dann sein Halstuch ab und wischte
damit Schweiß von der hohen Stirn und aus dem
breiten Nacken. »Nein, nein, du hast Recht.«,
murmelte er schließlich. Sie
wuchteten gemeinsam die Rucksäcke vom Boden in den Schrank.
Jedes Mal, wenn
einer abgestellt wurde, polterte es tüchtig. Für einen Moment wirkte es, als
ob sich etwas darin blitzschnell bewegen würde. Der kleinere, beleibte Mann
registrierte es,
wendete sich rasch ab und tupfte wiederum Schweiß vom Gesicht.
Sein rechtes Augenlid
zuckte mehrmals unkontrolliert. Er kannte das schon und
hielt schnell die Hand darauf.
Jack schloss den Schrank ab
und steckte den Schlüssel in die Brusttasche seiner Jagdweste.
Er klopfte von
außen darauf, als wolle er sich versichern, dass er auch tatsächlich an Ort und
Stelle sei.
»Wir essen jetzt!«, entschied
er, fischte einige verstaubte Konservendosen aus dem Regal
über dem Tisch und
öffnete sie mit seinem Schweizer Messer. Mike fand unterdessen einen
halbwegs
sauberen Kochtopf in einem niedrigen, vorhangbedeckten Regal neben dem rostigen
Waschtisch und kippte den Inhalt der Dosen zusammen. »Schau nach, ob Feuerholz
draußen
ist!«, instruierte Jack den jüngsten der Männer, den er Willy nannte und
der ihm gehorchte.
Schweigend verzehrten sie ihr
Mahl, das überwiegend aus weißen Bohnen und roter Soße
bestand. »Wann wird er
hier sein?«, fragte Mike ohne aufzuschauen. Seine Stimme zitterte.
»Vor
Morgengrauen.«, erwiderte Jack: »Wir sollten versuchen, ein paar Stunden zu
schlafen.«...
Die Eagle-Synchronizität (Nash D. Hendriks)
Mike Landers war nicht mein Freund. Ich kannte ihn nicht besser als zwei Dutzend
andere
schräge Typen, mit denen ich regelmäßig in einigen der schäbigsten
Spelunken der Stadt
abhing. Ob er überhaupt Freunde hatte, weiß ich nicht. Man
traf sich ohne Verabredung,
einfach so, saß ein, zwei Stunden schweigend an der
Theke herum, trank, war unter Leuten
und froh, sich keine flachen Gespräche aus
den Fingern saugen zu müssen. Keine Ahnung,
warum er ausgerechnet mich ständig
anquatschte.
Gestern Nacht haben sie ihn
oder das, was von ihm noch übrig war, von der Fahrbahn der
Landstraße draußen
vor der Stadt gekratzt. Ich schätze, ich bin der Einzige, der eine vage
Ahnung
davon hat, was ihm wirklich zugestoßen ist. Ich wünschte, ich wüsste es nicht.
Wenn ich jetzt so zurück
denke, glaube ich, der ganze Mist hat vor ungefähr zehn Tagen
angefangen.
Vorgestern habe ich zum ersten Mal etwas mitgekriegt. Ich hockte an
irgendeinem
vergammelten Tresen herum als er rein kam, sich neben mich zwängte und zwei
Biere bestellte. Eins der beiden Gläser schob er zu mir rüber. Ich registrierte,
dass der
Mittdreißiger noch eigenartiger wirkte als sonst. Landers stützte die
Ellbogen auf die biernasse
Theke und raufte sich mit beiden Händen die
strähnigen, dunkelblonden Haare. Dabei murmelte
er irgendwelches unverständliche
Zeug vor sich hin. Da er mich nicht interessierte und in der
Hoffnung, dass er
mich bald mit seinem Geschwätz in Ruhe lassen würde, stellte ich keine
Fragen.
Nach ein paar Minuten legte er allerdings von allein los: „So was gibt’s doch
gar nicht!
Scheiße, nee. Echt gruselig. He, Alter, ich bin ja nicht
abergläubisch, aber du glaubst nicht,
was mir in letzter Zeit für dämliche
Zufälle passieren!“
Mir war klar, dass er ohne
Antwort nicht still sein würde. Also sagte ich ihm: „Ich glaube an
Feen, aber
nicht an Zufälle, Mann.“ War nur so ein Spruch, aber gut genug für diese Art
tiefsinniger Bierkonversation, wie ich fand.
Wie ich in den folgenden zwei
Stunden den, aufgrund steigenden Alkoholspiegels, immer
zähflüssigeren
Ausführungen meines mitteilungsbedürftigen Thekengenossen entnehmen
konnte,
fühlte sich der gute Mann seit einigen Tagen quasi von Vögeln verfolgt. Dabei
handelte es sich nicht um hinterhältige Vogelschwarm-Attacken à la Hitchcock
oder eine
Schar mutterloser Jungenten, sondern um Adler. Auf Schritt und Tritt
sei ihm „das Vieh“
begegnet, beteuerte er. Zuerst habe er sich natürlich
überhaupt noch nichts dabei gedacht,
doch mittlerweile…
Bitte recht freundlich (Horatio "Hudl" Heisenberg)
oder
Die Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr
Ich verlasse morgens das Haus, um mich
zu meinem Auto zu begeben. Direkt vor meiner
Nase kreuzt ein Typ meinen Weg, der
mich kennen muss, weil er ständig hier vorbeikommt.
Ich rufe also ganz spontan:
„Morgen!“, weil sich das so gehört. Und wie reagiert der liebe
Zeitgenosse? Gar
nicht! Der guckt einfach weg! Das ist ärgerlich und peinlich zugleich, weil
man
ziemlich blöd dasteht, wenn man morgens um sieben vor der Garage Monologe hält.
Ich bin eingeschnappt und beschließe, ihn nie wieder zu grüßen, doch am nächsten
Morgen
geht aus Versehen wieder der Anstand mit mir durch.
Ehrlich gesagt passiert mir
so was in letzter Zeit ständig, obwohl ich längst dazugelernt
haben sollte. Ich
fürchte, ich bin hoffnungslos höflich und damit total am Zeitgeist
vorbeigeschlittert, Mega-out sozusagen. Aber ich schwöre: Ich kann nichts dafür.
Die
„gute Kinderstube“ ist schuld, also im Prinzip meine Eltern.
Offensichtlich steht die
Höflichkeit immer weniger Leuten dabei im Wege, ihre wahre
Persönlichkeit
auszuleben. Wie sonst sollte es sich erklären, dass man heutzutage schon
unlauterer Absichten verdächtigt wird, wenn man beim Betreten einer Bäckerei
bloß arglos
lächelnd „Guten Tag“ in die Runde sagt oder wenn man „macht nichts“
statt „pass doch auf“
murmelt, wenn einem jemand in der Kneipe auf den Fuß
tritt.
Die neue Unhöflichkeit
bezieht sich eben nicht nur auf die Grüßerei. Am allermeisten gehen mir
ja die
Manieren vieler Verkäufer/innen der großen Kaufhäuser auf den Geist, weil man
ihnen
so schlecht ausweichen kann. Neulich zum Beispiel brauchte ich dringend
ein Röllchen
Fensterdichtungsband, stand zwischen turmhohen Eisenregalen in
einem Baumarkt von der
Größe dreier Fußballfelder und konnte es nicht finden.
„Was soll’s“, dachte ich mir treudoof,
„hier sind schließlich so viele
versierte Fachleute. Sicherlich wird einer in der Lage und willens
sein, kurz
den Arm zu heben, um in die betreffende Richtung zu zeigen.“ Falsch gedacht.
Meine Odyssee durch den Laden dauerte etwa zwanzig Minuten.
Der Erste hatte keine Zeit,
weil er - offensichtlich mit einem Duz-Freund - telefonieren und
Neuigkeiten von
Zuhause austauschen musste. Ich erfuhr ganz nebenbei, dass seine Frau,
die ich
leider nicht kenne, mal wieder Ärger mit der Lehrerin der Tochter hat, die
ihrerseits
tags zuvor elf geworden ist, weil das Mädchen, das seit zwei Wochen
genau neben ihr sitzt...
Irgendwann begriff ich, dass ich störte. Ich fragte
mich beim Weitergehen, wie der Mann es
fertig gebracht hatte, fünf Minuten lang
an meinem Gesicht vorbeizugucken, als wäre ich
gar nicht da, obwohl ich nur
einen halben Meter von ihm entfernt von einem Fuß auf den
anderen trippelte.
Der Zweite sah gar nicht erst
von seinen Materiallisten hoch. Die Dritte zog einen Flunsch,
weil sie gerade
Feierabend machen wollte und verwies mich an einen Kollegen am anderen
Ende der
Halle.
Dieser Vierte „überhörte“
mein zweimaliges Fragen und schlenderte mit gleichgültiger
„Red-du-nur-Miene“ an
mir vorbei. Zum Glück war er mir nicht auch noch böse, hatte ich
es doch gewagt,
ihn beim Träumen zu stören. Der Fünfte hob erst einmal die Hand und
deutete mir
an, dass ich zu warten hätte, bis er alle Leisten ans Regal gelehnt und mit dem
Kollegen ausgeplaudert hätte, was wiederum einige Minuten dauerte. Dann legte er
die Stirn
in senkrechte Falten und murrte: „Was is ?“ „Fensterdichtungsband.“,
antwortete ich
resigniert: „Könnten Sie mir vielleicht ganz grob andeuten, wo
ich so was finde?“ Er winkte
ab und knurrte im Weggehen: „Nee, keine Ahnung.“.
„Na ja“, sagte ich mir, „eigentlich ist
so ein Baumarkt doch ein hübsches
Fleckchen Erde. Es gibt so viel zu gucken, da möchte
man gern noch die eine oder
andere Stunde verweilen.“
Beim Slalom um die Regale
entdeckte ich irgendwann eine junge schüchterne Auszubildende,
die eifrig mit
dem Stapeln von Kartons beschäftigt war. Ich rannte auf sie zu und brachte
atemlos meine Frage heraus. Na, ich traute ja Augen und Ohren kaum! Das Mädchen
lächelte und entgegnete höflich: „Kommen Sie bitte mit. Ich zeige es Ihnen.“
Wahnsinn!
Ich umklammerte mein Röllchen Fensterdichtungsband, schaute sie an wie
ein Wesen
vom anderen Stern und bedankte mich und bedankte mich und bedankte
mich...
Ganz reizende Begebenheiten
kann man auch in Lokalen erleben, wenn man nur an die
richtige Bedienung gerät.
In einer Pizzeria, wo ich hin und wieder zu Gast bin, weil man dort
leider
verdammt lecker isst, läuft das beispielsweise regelmäßig so ab: Man nimmt
Platz,
ohne begrüßt zu werden, während der Kellner wüst auf dem Tisch
herumhantiert, um die
Klecker- und Krümelspuren meiner Vorgänger notdürftig zu
beseitigen. Dann klatscht er
wortlos die Speisekarten auf den Tisch. Nach
einigen Minuten kommt er wieder miesepetrig
angeschlurft, bleibt mit gezücktem
Stift und Block neben einem stehen und brummelt „Und?“…
Als ob das Leben Balken hätte
(Horatio "Hudl" Heisenberg)
Alltagsrituale: Sachzwang oder kollektive Zwangsneurose
Der Meier von nebenan
putzt sein Auto jeden Mittwoch, nur mittwochs. Immer mit dem
gelben
Plastikeimerchen und immer zwischen 16 und 18 Uhr. Ich habe den Meier gefragt,
warum er das macht und er sagte mitleidig lächelnd: „Na, ist doch klar, das ist
so, weil...
das eben so ist!“, tauchte kopfschüttelnd den Schwamm ins Eimerchen
und legte einen Zahn
zu, weil es schließlich schon 17.45 Uhr war. Komisch, der
Meier ist doch hobbyloser Rentner.
Ich habe vorerst auf weitere Nachfragen
verzichtet. Man will schließlich nicht tumb erscheinen.
Außerdem ist er ja nicht der
Einzige, der seine alltäglichen Rituale pflegt: Wer kennt nicht
irgendeinen
Meier, der an jedem Arbeitstag, Punkt sieben, die familiäre Behausung verlässt,
um - Schirm in der linken Hand, Tasche unterm rechten Arm - den Linienbus an der
Ecke zu
besteigen. Im Winterhalbjahr geht so ein Meier schon um 6.55 Uhr aus der
Wohnung, da mit
Glatteis gerechnet werden muss.
Mal ganz ehrlich: Steckt im
Grunde genommen nicht in fast allen von uns so ein kleiner
„Meier“? Das fängt
doch schon beim Aufwachen an: Wecker haargenau auf fünf vor
irgendetwas,
Hausschuhe in Parallelstellung unterm Bett, Morgenmantel am Haken (nicht
am
Haken? Hilfe, wo liegt er!), linker Fuß zuerst raus, Bussi für Frau Meier (oder
Herrn Meier,
je nachdem, ob Sie Meier oder Meierin sind), ab ins Badezimmer,
Zähne bürsten, Hals
waschen, Klo gehen, Zeitung reinholen, weil sonst das
Brötchen nicht schmeckt, Brotdose
(eins mit Aufschnitt, eins mit Käse) und
Thermosflasche einpacken... Nur die Brille liegt
immer... irgendwo!
Die banalsten Vorgänge
täglichen Schaffens werden nach Tayloristischem Akkordvorbild
zerstückelt,
bewertet und in ein individuelles Ordnungsprinzip eingepasst. Alles hat seine
Reihenfolge, seinen Rhythmus: Das Saubermachen, die Arbeit, das Fernsehprogramm
- alles
läuft nach einem besonderen Plan ab, wenn er auch zuweilen einer
nachvollziehbaren
Begründung entbehrt. Selbst das Staubwischen hat bei manchen
Leuten System...
Durch neunzig
Jahre des Vergessens (Leilah Lilienruh)
In meinen überwachen Augenblicken, wenn wohl vertraute Heimatwelt und sommermüde
Seele sich vereint dem Herbst ergeben, wächst es still es mich hinein: Jenes
Gefühl der
Zeitlosigkeit, der Einheit von vorgestern, gestern und heute,
möglicherweise auch morgen.
Mag sein, es liegt am Laubgeschmack des Waldes, der
mir bei jedem Atemzug aus hügeliger
Landschaft würzig-herb entgegenweht oder an
den Nebelschleiern über undurchdringlich
wuchernden, hüfthohen Wiesengründen,
die mir Ewigkeit vermitteln. Ich muss nicht einmal
mehr die Augen schließen, um
mich an diesen Ort der ungelösten Rätsel vergangenen Lebens
und Sterbens am
westlichen Saum des Reinhardswaldes zu begeben.
Durch neunzig Jahre des Vergessens scheint die eine große Frage. Mir ist, als
hielten Raum
und Zeit in jedem Herbst eines jeden Jahres den Atem an, damit ich
den Ort betreten und
nach der Antwort suchen kann. Ich muss sie finden und mit
ihr meine Ruhe. Ob seine Ruhe
je verloren war, vermag ich nicht zu sagen…
Freunde
(Leilah Lilienruh)
Einer, den ich nicht kannte, einer, den ich leider nicht kannte und einer, an
den ich mich
nicht mehr erinnern konnte fragten mich neulich nach Stefan, den
ich aus meinem Leben
gestrichen hatte, als er damals mit irgendeiner Fremden
unbekannt verzogen war. Da wir
nun ohnehin schon einmal „Guten Tag“ gesagt
hatten, plauderten wir über einen
Arbeitskollegen, dessen Name mir entfallen ist
und über diverse Personen, mit denen wir
irgendwann früher einmal zu tun hatten.
Der, den ich leider nicht kannte, erwähnte auch
seine Ex-Frau, der ich
persönlich nie begegnet war. Sie sei eine hübsche Frau, fast so
hübsch wie
dieses berühmte Model, die einen niemals auch nur eines einzigen Blickes
würdigen würde, meinte er.
Als wir nach zwei oder drei
Minuten nichts mehr zu sagen wussten, starrten wir noch eine
Weile in die Wolken
und auf unsere Schuhspitzen, bis einer murmelte „also dann“.
Wir sagten uns „bis
irgendwann – vielleicht“ und gingen in verschiedene Richtungen davon.
Ich atmete tief durch und dachte, wie gut es doch ist, so viele enge Freunde zu haben.
Die Begegnung
(Leilah Lilienruh)
Von Lexington nach Northwellwood fährt man mit dem Auto rund neunzig Minuten.
Das ist
nicht allzu lange, wenn man eine kurzweilige Unterhaltung mit einer
charmanten Begleitung
führt. Unglaublich weit erscheint einem die Strecke
allerdings in Beisein von Menschen wie
Paul McArthur.
Selbst
die durchaus reizvolle Landschaft links und rechts des Weges sowie die Erfindung
des Autoradios können an dieser Tatsache nichts ändern.
Das
verschlafene Städtchen Northwellwood ist im Grunde genommen nicht wirklich eine
Reise wert. Weder beherbergt es Sehenswürdigkeiten oder Kulturschätze
irgendwelcher
Art, noch kann man dort besonders gut speisen, Sport treiben oder
entspannen. So ist
vermutlich auch zu erklären, dass niemals in Erwägung gezogen
wurde, eine Autobahn,
Schnellstraße oder zumindest einigermaßen passable
Landstraße an dem Ort vorbei zu
führen. Man nähert sich Northwellwood von Norden
her auf einer schmalen, kurvenreichen
und holprigen Straße, die kaum diesen
Namen verdient, und verlässt es in südlicher
Richtung auf einer ebensolchen wieder.
Gilda
McArthur wäre unter normalen Umständen nie auf die Idee gekommen, dorthin zu
reisen, aber da Paul ihr Gatte war, blieb ihr nichts Anderes übrig und zwar
mindestens
einmal pro Monat. Paul McArthur, zweiundfünfzigjähriger Schlosser von
pyknischer Statur
mit fleischigen Händen und rotadrigen Hängewangen, mochte
Northwellwood, weil er
seinen Freund George sowie dessen Tümpel mochte. Die
Männer bezeichneten die große
Pfütze auf dem Acker hinter Georges Haus großzügig
als Fischteich.
George
wohnte seit nunmehr dreizehn Jahren in der Gemeinde - weit weg von allem, was
normal gebildete Menschen als angenehm und erfreulich bezeichnen würden. Wer
mag,
kann sich ausrechnen, wie viele Wochenenden Gilda dort also schon verbracht
hatte.
Paul
McArthurs Schulfreund war bis zu seiner Frühberentung ebenfalls Schlosser
gewesen.
In Statur und Gehabe harmonierte er perfekt mit McArthur. Gilda
mutmaßte daher manchmal,
dies sei in Lexington die Grundbedingung für die
Ausbildung zum Schlosser gewesen.
Für
gewöhnlich verliefen die Aufenthalte so, dass sie Freitag nachmittags ankamen,
Gilda
die Reisetasche in die schäbige Dachkammer schleppte, die George „sein
schnuckeliges
Gästezimmer“ nannte, und Paul in der Zeit schon einmal die erste
Dose Bier mit seinem
Freund vor dem Fernseher leerte. Bei George war es meistens
nicht die erste Dose. Fragen
nach dem Grund für seine vorzeitige Rente
beantwortete er stets unwirsch mit: „Was weiß
ich. Irgendwas mit der Leber.“
Gildas
Tasche enthielt überwiegend Bücher und Zeitschriften, denn irgendwie musste sie
die folgenden zwei Tage ja herum kriegen. Beim Angeln war sie weder erwünscht
noch
wünschte sie sich, dabei zu sein. Das lag unter anderem daran, dass sie
nicht so gern auf
einem Bierkasten saß und zuhörte, wie sich die Männer
ausgiebig und fachkundig über die
Körperrundungen irgendwelcher „notgeilen
Weiber“, ihre eigene Person inbegriffen, ausließen.
Kleidung
zum Wechseln wurde kaum benötigt. Paul trug ohnehin die ganze Zeit die gleichen
Sachen und schlief in seiner Unterwäsche. Sich selbst in Schale zu werfen lohnte
auch nicht,
da sie von niemandem außer zwei Kerlen, die die meiste Zeit
angetrunken ins Wasser oder
auf die Mattscheibe starrten, gesehen wurde…
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