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Achtung unzensiert! - Kurzgeschichten | |||||||||||
Jene kleine, schmuddelige Bar in der Altstadt war so etwas wie das dritte Zimmer meiner schäbigen Studentenbude. Meine Nächte verbrachte ich dort zwischen Hoffnungslosen und hoffnungslosen Idealisten: Kommilitonen der Geisteswissenschaften, Punks, Arbeitslose, zukünftige Taxifahrer und Barmänner, Gelegenheitsrevoluzzer und Lebenskünstler mancherlei Art. Das heruntergekommene Mobiliar, die klebrige Theke, die verbrauchte, qualmsatte Luft und die widerwärtigen, telefonzellengroßen Toilettenräume - ich fühlte mich damals nirgends auf der Welt so zuhause wie in dieser Kneipe. Und ich empfand dabei, dass ein Zuhause nicht unbedingt ein Ort sein muss, an dem man sich wirklich wohlfühlt, sondern eine adäquate Außenhülle für die eigene Innenwelt. Wie oft standen wir bis zum frühen Morgen dicht gedrängt mit Bierflaschen in den Händen, die jugendlichen Gesichter von all dem wirren Zeug hochrot-diskutiert und -geblödelt, lachten grundlos zu laut und hysterisch glücklich, stießen uns gegenseitig die Ellbogen in die Seiten und wurden nicht satt oder müde von unserem sinnlosen Geschwafel. Was wir „machen würden, wenn“ und wem wir „so richtig in den Arsch treten würden, falls“, zelebrierten wir auch in angetrunkenem Zustand noch mit einer arroganzstrotzenden Eloquenz, die Kindern aus sogenanntem gutem Hause eigen ist, die sich ohne Not ins echte Leben hinabstürzen und darin verlorengehen. Manchmal blies mein bester Freund Qualmringe in die Luft. Er konnte mir damit imponieren, weil ich das nicht hinkriegte. „Los, schreib ein A rein!“, befahl er und freute sich wie ein kleiner Junge, wenn ich den Zeigefinger hob und unsichtbar die Anarchie verkündete. Stundenlang konnte er rauchend an der Theke lehnen und mit glänzenden Augen über Romane von Max Frisch und Hermann Hesse dozieren. Mit jedem Bier wurden seine Interpretationen gewagter, lebhafter und farbiger, auch abwegiger, seine Beine dabei immer wackliger, so dass er sich mit der Hand, die nicht Zigarette und Bierflasche hielt, an meiner Schulter festklammern musste. „Nachher bringen wir uns gegenseitig heim; erst ich dich und dann du mich“, pflegte er mit gespieltem Ernst anzukündigen. Und ich versprach es jedes Mal, hielt es aber nie. Über die Uni redeten wir kaum. Er studierte Ägyptologie und erwähnte niemals auch nur mit einem Wort das Danach. „Das ist ein weites Gebiet und man muss lange studieren“, beteuerte er nur manchmal. Ich selbst hatte mein Studium längst genauso satt wie die ganze miefige Stadt, über die bereits Heinrich Heine schrieb "ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht", die überteuerten Miethöhlen, den Mensafraß und im Grunde genommen auch diese Bar, die mich und meine Dämonen gnädig verschluckte. Ich wusste, dass er panische Angst vor dieser Zukunft hatte, in der es keine Schulter zum Festhalten, sondern nur jenes fadenscheinige soziale Netz zum Auffangen gab. Einer wie er würde lieber daran vorbeistürzen und hart auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen als dort drin zu landen. Manchmal hatte er nicht einmal mehr genug Geld für den Mensafraß oder die kurze Bahnfahrt zu seinen Eltern. "Flüssige Nahrung reicht mir", witzelte er verlegen, wenn ich ihm was zustecken wollte. Ich sorgte mich ein wenig um mich und sehr um ihn. Als er meine Schulter irgendwann selbst nach der siebten Flasche nicht mehr zum Geradestehen brauchte, sondern nur noch zum Ankuscheln, war mir längst klar, dass er nicht mehr ohne weiteres aufhören konnte, zu trinken. Er wusste seinerseits, dass ich trotz meines bereits bedenklichen Untergewichtes nicht aufhören konnte, mir die kranke Seele aus dem Leib zu hungern. Tabu-Themen, die wir sorgsam mieden. Wir taten einfach so als würde dieser seltsame Schwebezustand zwischen Erwachsenwerden und Erwachsensein für immer anhalten. In den Semesterferien jobbten wir. Nein, wir machten keine Streber-Praktika in irgendwelchen Hightech-Firmen, um einen kleinen Vorsprung auf der Karriereleiter und möglichst gute Ausgangspositionen beim Kriechen in Personalchef-Ärsche zu ergattern - wir malochten einfach nur und zwar hauptsächlich, um unseren ehemals Erziehungsberechtigten zu beweisen, dass wir „allein klarkommen“. Ich kam immer in irgendeiner Zeitungsredaktion unter, weil ich den Beruf vorher gelernt hatte. Er nahm, was er kriegen konnte. Keine Arbeit war ihm zu anstrengend oder zu dreckig. Hauptsache die Bezahlung stimmte einigermaßen. Meistens half er beim Räumen der vergammelten Wohnungen von Alten, die einsam zwischen dem Lebensmüll aus achtzig Jahren krepiert waren oder gegen ihren Willen ins Pflegeheim eingewiesen wurden. „Es ist ekelhaft!“, sagte er. „So werden wir auch irgendwann enden.“ Ich behauptete, dass ich das nicht glauben würde. Ich log. An jener biernassen, vollgeheulten Theke versoff er das bisschen Lohn dann wieder an meiner Schulter. „F.A.M“ nannten wir unsere Nächte in der Bar: Frustabbaumaßnahme. Mir schien, dass nicht nur wir beim Eintritt in den schwarz getünchten, verräucherten Laden die „Welt da draußen“ hinter uns ließen. Draußen waren seine verdammten Existenzängste, meine Melancholie, die geldgierigen Vermieter, die kaputten Fotokopierer, die ungeduldigen, nörgelnden Eltern, die verlorengegangenen Träume vom ehemals heißersehnten Erwachsenenleben… Drin aber waren das Stimmengewirr und der Schweißgeruch echter Menschen, gefüllte Bierleitungen, schriller Sound von Iggy Pop und Doppelfrontgesang von „The Clash“, ein scheppernder Flipper-Apparat und Michi, der Barmann, der immer wütend schien. Der machte seinem Frust ab und zu Luft, indem er dem defekten Flipper einen kräftigen Fußtritt verpasste. Ansonsten stand er nur griesgrämig hinter der Theke, zapfte und spülte. Genau genommen spülte er die Gläser nicht, sondern beschränkte seinen Ehrgeiz darauf, sie kurzzeitig mit der dreckigen Abwaschbrühe in Berührung zu bringen. Wie gesagt, wir tranken unser Bier lieber direkt aus der Flasche. Sommer, Winter, Olympiade, Landtagswahlen, seelischer Kollaps, Upper, Downer, Uni-Besetzung, darauf folgende Zwangsexmatrikulation einiger unserer engsten Freunde, Tschernobyl… völlig egal, in diesem Mikrokosmos veränderte sich nichts. Wir standen und laberten und soffen, versprachen uns hoch und heilig, nie wiederzukommen und waren spätestens zwei Tage später wieder genau dort, weil uns ohnehin nichts heilig war. Die Zeit stand still, weil wir sie nicht loslassen konnten, weil wir noch ein bisschen Zeit brauchten, noch ein bisschen, noch ein bisschen, noch ein bisschen..., weil wir noch nicht soweit waren, niemals soweit sein würden… Dann eines Nachts plötzlich dieser ohrenbetäubende Knall, gegen 5.30 Uhr war es, kurz, ohne Nachhall, scharf und schmerzhaft bis in die Eingeweide. Ich wusste, dass die Geräuschquelle nicht weit von mir entfernt gewesen sein konnte, verharrte trotzdem wie paralysiert in unüberwindbarer Schreckstarre. So wie mir schien es auch den Anderen zu gehen. Schlagartig war es totenstill im ganzen Laden, der sich vom hinteren Bereich her blitzschnell mit Qualm füllte. Für endlose Sekunden rührte sich niemand von der Stelle. Jeder schien mitten in der Bewegung eingefroren zu sein. Ich blickte in ratlose Gesichter, die langsam hinter einer Nebelwand verschwanden. Mehr instinktiv lokalisierte ich den Ursprung des schrecklichen Geräusches etwa einen Meter rechts von mir und war davon überzeugt, eine Neonröhre sei geplatzt. Irgendjemand hatte mir mal eingeredet, dass Neonröhren mit einem wahnsinnigen Knall zerspringen würden, wenn sie ihren Geist aufgeben. Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Mein bester Freund packte mich am Arm und zerrte mich im Menschenstrom hinter sich her ins Freie. Ich begriff gar nichts, registrierte nur, dass ich fast taub war und dass meine Augen brannten als hätte man mir Tabasco hineingeträufelt. Irritiert schaute ich mich um. Sowohl mein Freund als auch die restlichen etwa dreißig Gäste standen Rotz und Wasser heulend und hustend auf der Straße herum und versuchten, sich mit den Ärmeln die Sturzbäche von Tränen aus den Gesichtern zu wischen. Es dauerte Minuten bis irgendjemand wieder halbwegs gut sehen und hören konnte. Nur leises Gemurmel drang zu mir durch. Mir fiel auf, dass diese Beeinträchtigung der Sinne ein heftiges Gefühl von Einsamkeit auslöste. Man war wie eingesperrt in sich selbst. Oder vielleicht eher wie ausgesperrt aus der Welt? Einigen Mädchen liefen kleine, schwarze Wimperntuschebäche über die Wangen bis zum Hals hinunter. Ich dachte kurz, dass das bei mir genauso aussehen musste, aber der Anflug von Eitelkeit war gleich wieder vorbei, weil mir einfach zu übel für solche Gedanken war. Dann sah ich durch die Tränen hindurch, wie der Barmann sich durchdrängte und mit Drohgebärde auf einige Typen zuging. Offenbar wusste er mehr als ich. Ich folgte seinem zornigen Blick und sah einen jungen Punk in zerrissenen Jeans und Nietenlederjacke zusammengesunken auf dem Mauervorsprung einer Schaufensterscheibe sitzen. Er schluchzte ganz erbärmlich und es war eindeutig, dass diese Tränen nicht nur mit dem dichten, beißenden Qualm zu tun hatten, der noch immer aus der Spelunke drang. Sein Kumpel, ebenfalls in Punk-Uniform, hatte ihm tröstend, fast zärtlich, einen Arm um die Schulter gelegt und schaute nun traurig den Barmann an. „Es tut ihm wahnsinnig leid“, beteuerte er. „Das war ein Versehen. Er wollte das nicht. Ist runtergefallen. Er wollte uns doch nur mal die Tränengasgranate zeigen, die er letzte Woche bei der Demo aufgefangen hat.“ Alle schauten jetzt zu ihnen hinüber. Ich zählte im Kopf „21, 22, ...“ und war mir absolut sicher, dass Michi, der sich bis eben das Geschirrtuch vors Gesicht gepresst hatte, spätestens bei „25“ zuhauen würde. Seine Körpersprache sagte, dass er eine Scheißwut hatte und dass der Flipperautomat diesmal nicht ausreichen würde. Offensichtlich war er im Begriff, zu einem gewaltigen Faustschlag, mindestens aber zu einem ebensolchen verbalen Hieb anzusetzen. Der Redner mit der grün-rosa Irokesenfrisur blickte nun in die Gruppe. Seine Augen wanderten von einem fremden, verheulten Augenpaar zum nächsten. „Gerade ihr müsst doch verstehen wie das ist, wenn man immer nur Druck kriegt. Gerade ihr! Da ist man eben irgendwann voll daneben. Mensch, wir sitzen doch alle in einem Boot“, fuhr er halblaut fort. Obwohl alle anderen Laute noch wie aus weiter Ferne in meinem Kopf ankamen, konnte ich jedes Wort von ihm klar und deutlich verstehen. Er machte, dass ich mich plötzlich nicht nur kotzübel, verweint und halbtaub, sondern auch splitternackt fühlte. Und ich wusste, dass ausnahmslos jeder, der dort stand, sich so fühlte. Michi starrte jetzt auf seine Stiefelspitzen. Er versenkte die Hände tief in den Hosentaschen und presste die Lippen aufeinander. Alle schwiegen in diesem bizarren Paralleluniversum. Manche nickten kaum merklich. Die kleine Blonde mit den Strubbelhaaren, die jede Nacht jemand anders nach einem Schlafplatz fragen musste, ging in die Hocke und nahm ihren Schäferhund-Mischling in den Arm. Lauter kann Stille nicht sein, angefüllt mit stummen Angstschreien, Zorn, Ohnmacht, Lebenswut, Weltschmerz und Zärtlichkeit. Ein seltsames Bild, wie sich die Gruppe fremder Vertrauter im Morgengrauen wortlos in alle Richtungen zerstreute. Mein bester Freund schlurfte noch ein Stück neben mir her, bog an der nächsten Straßenecke ab und vergaß diesmal, mich nach Hause zu bringen. Er murmelte nur noch: „Na dann, bis morgen Abend, wie immer.“ Und wir standen am nächsten Abend wieder an der Theke. Wie immer. Fast.
Direkt neben uns wohnte ein gewisser Stefanovski mit Anhang, hinten grenzte der Garten der Retzlaws an unser Grundstück, was sehr praktisch war, weil ich wunderbar mit Sohn und Tochter der Familie spielen und zanken konnte, und schräg gegenüber gab es den Witwer Kiesow. Stefanovski und seine zweite Ehefrau waren für uns Kinder insofern interessant, als wir eifrig bemüht waren, ihnen aus dem Weg zu gehen. Mit beiden war nicht gut Kirschen essen, vor allem dann nicht, wenn es sich um solche drehte, die wir von deren eigenem Baum stibitzt hatten – dem einzigen herrlichen Schattenmorellenbaum in der ganzen Straße. Wir fanden, Stefanovski sei selbst Schuld daran, dass ihm gelegentlich Früchte abhanden kamen, hatte er den Baum doch so gepflanzt, dass man unter einfacher Zuhilfenahme einer Gartenbank mit einem Holzstuhl darauf, auf dem man einen umgedrehten Eimer platzierte, ganz leicht über den Zaun an die Kirschen langen konnte. Der drahtige Mittfünfziger teilte diese Auffassung offenbar ganz und gar nicht und war zudem in der Lage, gleichzeitig ohrenbetäubend zu brüllen und hinter uns herzurennen. Ich muss gestehen, dass wir trotz unserer verständlichen Aversion gegen Stefanovski insgeheim auch eine gewisse Hochachtung angesichts dieser Leistung empfanden - auf jeden Fall dann, wenn er nicht gerade mal wieder hinter uns her war und wir selbst rennen mussten. Schließlich war der Mann schon über 30 und fiel somit bei uns Kindern unter die charmante Klassifizierung „alter Sack“. In seinem Fall fand gelegentlich sogar die Steigerungsform „uralter Sack“ Verwendung. Wir rannten jedenfalls und wie wir rannten, obwohl ich mich heute vernünftigerweise frage, warum eigentlich. Schließlich kannte er uns ja und wusste genau, wo wir wohnten. Ich denke, wir fanden es einfach sicherer, auf eigenem Grund und Boden in Anwesenheit unserer Eltern den Anschiss in der Phonstärke eines startenden Jumbo-Jets zu kriegen.
Meine
Mutter schämte sich zwar insgeheim jedes Mal, wenn er wieder Wut schnaubend vor
der Haustür stand, aber sie tat so, als sei er nur ein durchgedrehter Querulant
und ich das artigste Kind der Welt. Mit ihrer Schimpfe wartete sie aus
pädagogischen Erwägungen heraus immer, bis er definitiv außer Hörweite war.
Der dürre, neunzehnjährige Sohn der Stefanovskis, für uns acht- und neunjährige Kinder ebenfalls schon ein recht alter Kerl, tat mir schrecklich leid. „Kein Wunder, dass der so viele Pickel hat“, dachte ich: „Bei so einem elenden Gemotze Tag für Tag müssen ja die Talgdrüsen verstopfen. Und außerdem ist er bestimmt noch in dieser blöden Bubität.“ Ähm, ja, in südhessischem Dialekt klingt halt alles ein bisschen anders. Ich war mir auch bis zum fünfzehnten Lebensjahr sicher, dass Alexandre Dumas wackere Helden „Die drei Muskeltiere“ hießen. Man kann sich vermutlich mein Entsetzen vorstellen, als meine Eltern irgendwann verkündeten, ich würde ebenfalls in diese „Bubität“ kommen. Als Mädchen hatte ich mich ja ahnungslos auf der sicheren Seite gewähnt.
Herr Kiesow
von gegenüber, der mit Anfang siebzig ja tatsächlich ein älterer Herr war,
gehörte zum Inventar der Straße und fiel nicht weiter auf. Wie dem alten,
nussbaumfarbenen Blumentischchen meiner Großmutter, das, solange ich denken
konnte, in einer hellen Zimmerecke stand und keine andere Funktion hatte, als
einen Blumentopf mit einer hässlichen Kaktee zu tragen und den schmutzig-rußigen
Fleck vom ehemaligen Kohleofenanschluss auf der Tapete zu verdecken, so schenkte
man auch Kiesow normalerweise keinerlei Beachtung.
Der Winter
des Jahres, in dem ich neun geworden war, begann nach kindlichen Ermessen mit
dem ersten Schnee Mitte Dezember. Zu Ende war ein Winter dementsprechend mit
dem Verschwinden der letzten werfbaren handvoll Schnee.
So hockte
ich also hinter der Scheibe, die Gardine als Brautschleier um den Kopf drapiert,
und hielt Ausschau nach dem, was draußen vor sich gehen könnte, also im Grunde
genommen gar nichts. Irgendwann kam Stefanovski mit seinem tannengrünen
VW-Variant die Straße hoch getuckert, hielt in seiner Hofeinfahrt und ließ Frau
Stefanovski ungefähr fünfzehn schwere Einkaufstüten ins Haus schleppen, während
er ums Auto herumging und sorgsam nach etwaigen Lackschäden oder
Verschmutzungen suchte. Das machte er immer so, sobald die ersten Krümel Schnee
vom Himmel fielen. Erst nach gründlicher Inspektion durfte der Wagen in die
Garage. Vorher wurden noch die Fußmatten ausgeklopft.
Ich
begnügte mich also missmutig mit Zugucken. Schön machte sie das, so ordentlich.
Die Holzschippe hinterließ fast hundertprozentig parallele Bahnen auf dem Boden.
Den kleinen, hochstehenden Grat dazwischen kehrte sie anschließend auch noch
fort. Auf ihrem Kopftuch und dem dauergewellten Pony lagen mittlerweile mindest
drei Zentimeter Neuschnee. Es schneite und schneite. Gegen siebzehn Uhr kehrte
sie zum dritten Mal, jedes Mal mit einem anderen Kopftuch auf. Sie besaß
offenbar sehr viele verschiedene Tücher. Mich wunderte nur, dass sie nicht ein
einziges mit einem hübschen Muster gekauft hatte, nicht mal aus Versehen.
Statistisch gesehen wäre das doch durchaus möglich gewesen.
Da ich
keine Petze war und der Kiesow mich auch nicht geärgert hatte, behielt ich
seinen Verstoß jedenfalls für mich. „Wenn der ins Zuchthaus muss, ist er
womöglich schon tot, wenn er wieder rauskommt!“, dachte ich mir mitleidig und
außerdem war ja auch noch keiner auf den A... ähm... auf die Nase gefallen.
Nun hätte
mich nicht einmal mehr eine ausgewachsene Angina im Haus halten können, obwohl
das Wort für mich sehr gefährlich klang und ich nicht wusste, dass meine Mutter
damit eine ganz gewöhnliche Mandelentzündung meinte. Kein Wunder, dass ich es
nicht wusste, rief sie doch aus, sobald ich zugab, dass meine Rachenmandeln
schmerzten: „Oh, das kann aber ganz schnell eine Angina werden!“
„Guck mal“,
meinte der Klaus Retzlaw irgendwann zwischen zwei Schneebällen zu mir, „der alte
Kiesow lässt’s liegen!“ Und in der Tat hatte sich auf dem Bürgersteig und auf
dem Weg zu seiner Haustür eine geschlossene Schneedecke gebildet, völlig
„jungfräulich“, wie mein Vater das nannte. Kein einziger Fußstapfen führte zur
Tür und auch keiner hinaus zur Straße.
Heiligabend
begann in meiner Kindheit später als heute. Das lag daran, dass die Leute am 24.
Dezember noch bis Mittag zur Arbeit gehen mussten, wenn er nicht gerade auf
einen Sonntag fiel. Wir Kinder wurden von den gestressten Müttern gern noch ein
bisschen vor die Tür gescheucht, damit sie Ruhe hatten, alles vorzubereiten: das
Abendessen, die Geschenke, die Garderobe für den Kirchgang. Damals war ich noch
felsenfest davon überzeugt, den Müttern würde das alles unwahrscheinlich viel
Spaß machen, sie würden sich förmlich drum reißen, tagelang all diese Bleche mit
Plätzchen und Stollen zu backen, das Haus zu putzen, Einkäufe heimzuschleppen,
Schwiegereltern einzuladen und Vätern wie Kindern die passende Garderobe aufs
Bett zu legen.
Ich nutzte
jedenfalls damals die Zeit zum Schneeschippen, bei uns und bei Kiesow. Während
ich mich abmühte, Schaufel um Schaufel auf die mittlerweile beachtlichen Hügel
zu türmen, bemerkte ich ein eigentümliches Geräusch. Es kam offenbar aus Kiesows
Haus und klang irgendwie schauerlich. Natürlich war ich furchtbar neugierig,
aber in den Garten zu gehen, kam wie gesagt nicht in Frage. Ich überlegte kurz
und rannte dann durch unseren Garten hinüber zu Retzlaws, um den Klaus zur
Verstärkung zu holen, der gerade in die Badewanne sollte.
Zuerst
konnte ich im Halbdunkel des Raumes fast nichts erkennen, obwohl ich angestrengt
guckte und mir die Nase an der kalten Scheibe plattdrückte. Selbst in diesem
Augenblick konnte ich nicht vermeiden, dass mir einer meiner recht seltsamen
Gedankengänge durchs Hirn schwirrte: „Ob die Polizei wohl Nasenabdrücke wie
Fingerabdrücke nimmt“, so grübelte ich, „und damit solche neugierigen
Fenstergucker wie mich überführen kann?“ Plötzlich wich die Wut allerdings blankem Entsetzen. Für einen Augenblick war ich nicht mehr in der Lage den weit aufgerissenen Mund zu schließen, so dass die Scheibe vor mir atemfeucht beschlug und die Sicht auf die makabere Szenerie vernebelte. Dann wischte ich rasch eine kreisrunde Stelle mit den Fäustlingen frei und hielt den Atem an: Der alte Kiesow hatte seine Katze gar nicht vergessen. Er selbst war vergessen worden, von aller Welt. Völlig regungslos mit weit offenen Augen lag er auf der Eckbank. Ein Arm hing schlaff herunter, der andere lag auf seinem Bauch. Vor ihm auf dem Tisch stand ein gefüllter Suppenteller. Ich war neun Jahre alt, aber ich kapierte sofort, dass Kiesow in diesem Zustand keinen Schnee schippen konnte und auch, dass er keine Gladiolen mehr pflegen würde. Wir verließen das Grundstück schreiend und schnurstracks über den Plattenweg.
Bei Klaus
fiel das Baden an diesem Abend aus und bei uns zu Hause der Kirchgang.
Stattdessen standen meine Eltern und ich am Fenster in meinem Kinderzimmer und
sahen, wie Arzt, Polizei und Feuerwehr durch den unberührten Schnee in Kiesows
Haus und eine Stunde später mit Kiesow in einer Metallkiste wieder hinausgingen.
Die Stefanovski erzählte meiner Mutter, sie hätte aufgeschnappt, dass der
Verstorbene dort nach seinem Herztod schon mindestens zehn Tage gelegen habe.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages hörte der Schneefall auf. Das vorher makellose, glitzernde Weiß auf Kiesows Plattenweg sah schrecklich aus, vollkommen zertrampelt mit vielen verschiedenen Sohlenabdrücken darin. So viel Besuch hatte der alte Herr bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr gehabt.
Ich lief
mit unserer Schneeschaufel hinüber und schippte den Weg blitzblank. Gedanken übers Schweben, Versinken und Auftauchen
Ich hülle mich frierend darin ein, bedecke die Schrunden und Narben, muss nicht mehr rupfen und putzen. Noch taugt es nicht zum Fliegen, doch morgen schon werde ich üben, ein Teil meines Himmels zu sein. Mein Spiegelbild wird langsam klarer. Ich stehe mir selbst vis à vis, kann endlich den Augen entlocken, wer ich war und wer ich ab heute erst bin. Die Scherben verschmolzen zu zartester Fläche, der See darunter ist tief. Ich musste zum Grund hinab tauchen. Nun treibe ich trotzig auf glasgrüner, stiller Zuversicht.
Vom Mars mit all seiner Kälte, sagt sie, hat sie nichts gewusst. Was weiß schon ein Kind von marsianischer Röte, von der pochenden Wutader männlicher Schläfen, vom Kriegsgott und Phobos und Deimos, die ihn stets begleiten. Mein gestriges Ich streckt die Hand aus und führt mich durch gestrige Räume, wo es einfach war, aufrecht zu gehen. Auf Zehenspitzen kann man bis hinter den Horizont blicken, dorthin, wo das Leben so grenzenlos scheint, so sorglos im stetigen Aufwind. Hinterm Horizont lag die Zukunft, ganz leicht zu erreichen mit mächtigen Flügeln gesponnen aus Leichtsinn und Mut. Ach, könnte dies Kind doch ewig verharren im
sicheren Raum zwischen Wollen und Werden. Erst flog dieses Kind, dann lag es, dann sank
es. Und schließlich begann es, sich selbst die nutzlosen Federn aus Flügeln und
magerem Leib auszureißen. Wozu soll ein Federkleid taugen, das nichts ist als
nutzloser Schmuck. All seine schillernden Federn musste der kleine Mensch geben, bis er hinuntersank auf den Grund jenes Sees, von wo aus man den Himmel nicht mehr sieht. Tausend Demütigungen lang lag er dort und glaubte sich, dass es die Welt nicht mehr gibt und wollte, dass es die Welt nicht mehr gibt. Dann wuchs der Gedanke; so undenkbar, so absurd, dass er schreien musste, um gehört zu werden: "Du musst dir selbst die Augen öffnen, um aus hemmungsloser Ohnmacht zu erwachen!" Und was es sah, ließ das federlose Wesen froh
und traurig werden und viele schwere, alte Tränen weinen. Mit jeder Träne wurde
es ein wenig leichter und stieg an die Oberfläche empor. Nun treibe ich trotzig darauf. Mein Federkleid wird langsam dichter. Ich streiche sanft darüber. Bald werde ich wieder fliegen können... bald... bald... Hinterm Horizont liegt immer noch die Zukunft. Ich kann sie wieder erkennen. Mars und seine Söhne habe ich in dunkler Tiefe unter mir zurückgelassen. Manchmal kann ich ahnen, wie sie drohend brüllen, doch ihr Ruf erreicht mich nicht, denn der Federflaum wächst auch in meinen Ohren. Das macht mich heiter und lässt mich meinem Spiegelbild im See ein Lächeln schenken.
Wir haben Deine Asche ins Meer gestreut und weitergelebt. Ein Jahr ist das her. Der November nahm
Dich mit über die See. Hast du
Dir deinen letzten Törn so vorgestellt?
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